Protokoll der Landratssitzung vom 9. Februar 2017
Nr. 1235 |
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2016-309 vom 20. Oktober 2016
Postulat von Regula Meschberger, SP: Erarbeitung einer ganzheitlichen Strategie gegen die Armut - Der Regierungsrat beantragt: Entgegennahme - Beschluss des Landrates vom 9. Februar 2017: < überwiesen > |
Landratspräsident Philipp Schoch (Grüne) informiert, dass der Regierungsrat das Postulat entgegen nimmt.
Balz Stückelberger (FDP) kann sich vorstellen, dass alle recht gespannt sind, zu hören, was man denn gegen das durchaus sympathische Anliegen vorbringen könnte. Wer ist schon gegen ein Postulat gegen Armut? Es sei denn, man wagt sich daran, ein solch sympathisches Anliegen völlig schmerzfrei zu hinterfragen.
Ist es denn wirklich so, dass es in der Schweiz keine Armutsstrategie gibt? Kann es sein, dass man an der genannten Konferenz erschreckt festgestellt hat, dass hier unbedingt etwas getan werden müsse? Die FDP-Fraktion gibt zu bedenken, dass die Armutsstrategie ein wichtiger Teil der Verfassung ist, Basis des Sozialstaats und vor allem des fein verästelten Sozialversicherungssystems, das vom Bund über Kantone bis in die hinterletzte Gemeinde reicht. Die FDP fragt sich, was man sich denn unter einer solchen Strategie tatsächlich verspricht? Es ist kaum anzunehmen, dass dabei etwas herauskommt, was man nicht schon weiss. Auch wenn das Anliegen wunderschön ist, getraut sich seine Fraktion deshalb, es abzulehnen.
Regula Meschberger (SP) findet das von Balz Stückelberger als «schön» bezeichnete Anliegen gar nicht schön. Diese Qualifizierung lässt leider vermuten, dass er die Realität total verkennt. Zudem ist die Votantin nicht bekannt dafür, schöne Vorstösse zu machen. Hätte Stückelberger an der Armutskonferenz teilgenommen und den Armutsbericht intensiv gelesen, hätte er feststellen können, dass trotz Bundesverfassungsartikel, trotz Sozialrecht, trotz Kantonsverfassung und trotz Sozialhilfe, sechs Prozent der Bevölkerung zwischen Stuhl und Bank fallen. Warum auch immer. Dafür gibt es verschiedene Gründe, was anhand der Lebensgeschichten Betroffener eindrücklich dargelegt werden konnte, bei denen weder eine Sozialhilfe noch sonstige Massnahmen etwas bewirken. In solchen Fällen braucht es eine ganzheitliche Sichtweise, um zu sehen, an welchen Punkten man einzugreifen hat. Unter die sechs Prozent fallen auch viele alleinerziehende Elternteile mit Kindern, für die durchaus Massnahmen vorhanden sind. Es ist aber ganz wichtig, dass in diesem Bereich Kanton und Gemeinden zusammen arbeiten und genau hinschauen, wer wo was machen könnte. Sechs Prozent Arme sind sechs Prozent zu viel. Die Postulantin bittet, das Anliegen nicht nur als nett gemeint zu verstehen, sondern ernsthaft zu überwiesen.
Marie-Theres Beeler (Grüne) unterstützt das Votum von Regula Meschberger vehement. Jeder Mensch, der in dieser reichen Gesellschaft arm ist, ist einer zu viel. An der Armutskonferenz wurde klar, dass es Menschen (sogenannte Working Poor) gibt, die trotz ihrer 100%-Stelle ihre Familie nicht durchbringen können. Es sind ganz unterschiedliche gesetzliche Grundlagen dafür zuständig, Armut aufzufangen. Es geht auch um bedürfnisbezogene Leistungen, die es gut aufeinander abzustimmen gilt und wo man untersuchen muss, welche Armutsrisiken es gibt und wo Interventionsbedarf vorhanden ist. Es geht letztlich darum, dem Armutsbericht Taten folgen zu lassen. Es wäre zynisch, einen solchen Bericht vor sich liegen zu haben, ohne zu schauen, wie sich darauf seriös eingehen liesse.
Balz Stückelberger (FDP) ist sich bewusst, dass das Risiko, falsch zu verstanden zu werden, relativ gross ist, wenn man sich getraut, den Bericht zu hinterfragen. Selbstverständlich sind alle sich einig, dass jede und jeder Armutsbetroffene eine und einer zu viel ist. Es geht nur um die Frage: Was ist der Mehrwert, wenn es auf kantonaler Ebene eine Armutsstrategie gibt? Vor drei Stunden erhielt der Votant eine Mail vom Bundesamt für Sozialversicherung bezüglich «Ausschreibung des Forschungsprojekts nationales Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut». Dies entspricht in etwa der Flughöhe, auf der man etwas erreichen könnte. Denn es ist zumindest fraglich, ob auf kantonaler Ebene innerhalb eines nationalen Sozialversicherungssystems eine hilfreiche Armutsstrategie entwickelt werden kann. Der Votant kann sich nicht vorstellen, was damit konkret erreicht werden kann, ausser dass es einem das Gefühl gibt, etwas getan zu haben.
Jürg Wiedemann (Grüne-Unabhängige) nahm damals ebenfalls an der angesprochenen Konferenz teil, wo fast 100 direktbetroffene Personen anwesend waren. Diese Erfahrung hat ihn stark geprägt. Die von Regula Meschberger erwähnten 6% entsprechen in absoluten Zahlen gesprochen (je nach Rechnungsart) zwischen 11'000 und 21'000 Menschen. Der Votant gibt die Hoffnung nicht auf, dass kämpfend dagegen etwas unternommen und die Zahl nach unten gebracht werden kann. Das Statement von Balz Stückelberger erweckte den Anschein, dass man ohnehin nichts dagegen unternehmen könne. Es kam sogar – Stückelberger verzeihe ihm diese Bemerkung – fast etwas despektierlich daher. Diese Personen sind dem Votanten aber zu wichtig, und er möchte dafür kämpfen, dass die Zahl gewaltig und schnell abnimmt.
Würde der Votant den Kampf gegen diese und andere Missstände aufgeben, nur weil etwas zu erreichen schwierig ist, und hätte er sich in den letzten 10 Jahren so verhalten – dann gäbe es heute Sammelfächer und der Lehrplan 21 wäre bereits eingeführt. Das Thema Armut ist ohne Zweifel schwierig. Welches die nötigen Massnahmen sind, ist ihm im Moment nicht bekannt – dies hat die Regierung zu erarbeiten. Aber auch wenn es noch so schwierig ist, lässt sich dennoch etwas erreichen. Was es braucht, ist die Mithilfe von allen.
Marianne Hollinger (FDP) nahm ebenfalls an der Armutskonferenz teil, weil ihr dieses Thema wichtig ist und sie sich in diesem Bereich insbesondere für Jugendliche engagiert. Allerdings hatte sie einen ganz anderen Eindruck. Sie verliess die Konferenz bereits nach der Hälfte, weil ihr schien, dass die Armen, die man dafür aufbot, sehr wenig zu Wort kamen. Dafür schien das Ganze auf eine Werbeveranstaltung für die Ergänzungsleistungs-Initiative hinauszulaufen, was in aufwendigen Powerpoints noch unterstrichen wurde. Dies störte sie extrem. Mit ihrer Teilnahme beabsichtigte sie, die Betroffenheit der Menschen zu spüren und herauszuhören, wo man (gerade auf Gemeindeebene) mehr tun könnte oder sollte. Dies war aber in keinster Weise Inhalt der Veranstaltung. Bevor sie die Konferenz verliess, teilte sie ihre Bedenken den Verantwortlichen mit.
Nun liegt der Vorstoss vor. Zwar wird das Wort Ergänzungsleistung darin nicht erwähnt. Wenn man aber einen solchen Vorstoss bringt, sollte man auch so ehrlich sein, offen zu legen, worum es einem wirklich geht, damit darüber diskutiert werden kann. So, wie er daherkommt, ist die Votantin überhaupt nicht damit einverstanden. Sie unterstützt das Votum von Balz Stückelberger. Einerseits ist die Armutsstrategie Bundessache, andererseits obliegt die Umsetzung weitestgehend den Gemeinden – wo die Verantwortung unbedingt auch bleiben soll. Denn den betroffenen Menschen ist nur gedient, sofern die Nähe zu jener Stelle, die in den allermeisten Fällen die Sozialhilfe spricht, gewährleistet ist. Eine Beleuchtung dieser Zusammenhänge – die Nähe zur Behörde, damit sie als Menschen und nicht als Nummern wahrgenommen werden – hat an der Veranstaltung komplett gefehlt. Es wäre für die Betroffenen das Allerschlechteste, wenn diese Aufgabe der Gemeinde weggenommen würde, damit nur noch ein Geldfluss stattfindet.
Regula Meschberger (SP) bedauert, dass Marianne Hollinger zu früh gegangen ist, denn im zweiten Teil der Veranstaltung kamen die Betroffenen zu Wort und deren Geschichten wurden gehört. Zudem war es keine Werbeveranstaltung. Der Votantin geht es in ihrem Vorstoss nicht um Ergänzungsleistungen für Familien, worüber übrigens in diesem Rat schon diskutiert wurde, und wozu eine Volksinitiative am Laufen ist. Es geht um etwas anderes. Natürlich ist eine nationale Strategie zur Armutsbekämpfung wichtig. Es geschieht aber auch Vieles auf kantonaler und kommunaler Ebene. In ganz vielen Bereichen wird unterstützt, werden Subventionen und Verbilligungen gesprochen, damit die Leute nicht in die Sozialhilfe rutschen. Wie die Unterstützung angegangen wird, soll durchaus auf kantonaler und kommunaler Ebene angeschaut werden.
Im Armutsbericht wurde auch das Thema Bildung angesprochen. Auch dort lässt sich überlegen, ob die richtigen Angebote bei den Brückenangeboten oder im Schwellenbereich bestehen. Solche und andere Fragen muss man sich unter dem Aspekt Armut stellen.
Christine Gorrengourt (CVP) weist darauf hin, dass man aus verschiedenen Gründen von Armut betroffen sein kann. Man weiss, dass für arme Familien die Wahrscheinlichkeit sehr gross ist, dass die einzelnen Mitglieder später arm bleiben – die Armut somit quasi weitervererbt wird. Hierbei gilt es auch, Bildung miteinzubeziehen. Das Thema ist gesamtheitlich anzuschauen. Natürlich ist es wichtig, dass die Gemeinden sich diesem Thema annehmen. Aber es gibt auch übergreifende Themen, die man ins Visier nehmen sollte. Deshalb wäre eine Strategie sinnvoll. Die CVP/BDP-Fraktion unterstützt das Postulat.
Oskar Kämpfer (SVP) war von Anfang an klar, dass es eine schwierige Diskussion werden würde. Es ist natürlich relativ einfach, betroffen zu sein, wenn man eine solche Veranstaltung besucht. Der Votant selber kommt aus einer Familie mit 10 Kindern. Armut war für ihn immer ein Thema, einzelne seiner Geschwister sind heute noch davon betroffen. Der Votant weiss also, wovon er persönlich spricht – und das nicht aus Distanz. Es bringt aus seiner Sicht aber nichts, wenn nun ein Aktivismus ausgelöst wird, nur weil einem bewusst geworden ist, dass es auch in diesem Kanton Arme gibt. Der Hinweis von Balz Stückelberger ist richtig, dass es zum Teil nationale, zum Teil kommunale oder kantonale Instrumente sind, die ineinander greifen. Möchte man aber etwas konkret verändern, soll man dort beginnen, wo sich die Leute auch tatsächlich bewegen: auf kommunaler Ebene. Dort gilt es, den Betroffenen den Zugang zu den jeweiligen Instrumenten zu erleichtern. Wird hier aber nun ein Signal an die Kommunen ausgesendet, man wolle das Problem mit einer Gesamtstrategie lösen, würde dies mit Sicherheit dazu führen, dass die Kommunen noch weniger tun. Mit der Folge, dass der Zugang für die Menschen weniger gut und einfach ist als heute.
Béatrix von Sury d'Aspremont (CVP) ist doch etwas überrascht über einige der Voten, die sie vernommen hat. Für sie ist es eine Schande, dass es in der Schweiz überhaupt arme Menschen gibt. Die Votantin legt offen, dass sie dem Initiativkomitee Ergänzungsleistungen angehört. Sie wertet dies als eine Möglichkeit, dem Problem beizukommen und vielleicht auch in den Griff zu bekommen. Aus diesem Grund unterstützt sie auch sehr gerne das Postulat, weil es eine Möglichkeit eröffnet, eine Strategie zu finden. Andere Kantone haben dies auch geschafft.
Marie-Theres Beeler (Grüne) findet das Wesentliche an einer Armutsstrategie die Möglichkeit, Armut zu verhindern. Es geht nicht darum, die Armut erst dann zu bekämpfen, wenn sie hier ist, wie das Oskar Kämpfer erwähnt hatte. Es geht vielmehr darum, die Einflussfaktoren in den Blick zu nehmen: Welche Wohnungen gibt es, wie werden Gemeinden mit billigen Wohnungen und hohen Sozialhilfeleistungen bestraft, wie ist der Finanzausgleich zu gestalten, dass es überhaupt bezahlbaren Wohnraum gibt, welche Bildungsinstrumente braucht es, damit nicht-muttersprachliche Personen von Armut verschont bleiben etc. Es geht also darum, die Zusammenhänge zu verstehen und Massnahmen zu ergreifen; und dies nicht nur auf Bundesebene oder kommunaler Ebene, wo die Sozialhilfe ausgelöst wird, sondern auch auf kantonaler Ebene, wo eine wichtige Steuerungsfunktion angegliedert ist.
Regierungsrat Anton Lauber (CVP) ist froh, dass die Diskussion zu diesem ernsthaften Thema intensiv geführt wird. Emotionalität lässt sich hier nicht vermeiden, was aus seiner Sicht auch gerechtfertigt ist.
Dennoch ist die Flughöhe zu berücksichtigen – sowohl des Vorstosses, als auch der Problematik, wie sie sich im Kanton, in den Gemeinden und im Bund stellt. Das Thema ist die Strategie. Dies kann mit dem nächsten Vorstoss (Traktandum 24) über Harmonisierung und Koordination von Sozialleistungen verknüpft werden. Es wurde zu Recht gefragt, wo konkret der Mehrwert sei. Auf einer strategischen Ebene lässt sich dies sehr gut einmal anschauen. Es gibt tatsächlich keine kommunale Zuständigkeit, die für sich alleine betrachtet werden kann. Ebenso wenig gibt es das für die kantonale und die Bundesebene. Es handelt sich um Verbundaufgaben, die gemeinsam miteinander erledigt werden müssen. Es ist eine Tatsache, dass die Systeme sehr schlecht aufeinander abgeglichen und kaum koordiniert sind.
Es gibt Hunderte von Leistungen, die der Kanton bietet. Basel-Landschaft steht in dieser Hinsicht nicht schlecht da, sondern reagiert verantwortungsvoll auf die Herausforderungen. Der Votant könnte eine Liste an Leistungen vorlesen mit Massnahmen, die Menschen in schwierigen finanziellen oder sozialen Verhältnissen zugute kommen: Berufsberatung, berufsintegrative Angebote, Bildungsprogramm, Wiedereingliederungsprogramm, Arbeitsmarktmassnahmen, Sozialleistungen, Alimentenbevorschussung, Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe, Kindertagestätte, Mutterschaftsbeihilfe, Pflegebeihilfe, Jugendmusikschulen, Jugendzahnpflege, Mittagstisch, Stipendien, Mietzinszahlungen, Krankenkassenprämienverbilligung, Kinderzulagen, Familenzulagen usw. Es gibt also keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben, unternimmt der Kanton doch sehr viel.
Die Frage ist aber, ob diese Systeme auch miteinander spielen im Hinblick auf das erwünschte Ziel. Ist man effizient unterwegs? Gibt es einen Mehrwert? Aus Sicht des Votanten darf man diesen Fragen zwei, drei Fragezeichen hinterherschicken und abklären, ob allenfalls Bedarf für die Harmonisierung dieser Systeme besteht. Lässt sich für die Betroffenen ein Mehrwert auslösen, wenn diese Systeme aufeinander abgeglichen werden? Der Votant ist deshalb, und mit Verweis auf das kommende Traktandum, bereit, sich darüber Gedanken zu machen und das Thema einer Prüfung zu unterziehen. Es geht um eine Harmonisierung, das Abbauen von Schwelleneffekten und das Beseitigen von Fehlanreizen. Und schliesslich besteht der Ehrgeiz, ein effizientes und wirkungsvolles Sozialsystem zu haben.
://: Der Landrat überweist das Postulat 2016/309 mit 54:25 Stimmen bei zwei Enthaltungen.
Für das Protokoll:
Markus Kocher, Landeskanzlei