Protokoll der Landratssitzung vom 16. November 2006

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2006-141 vom 18. Mai 2006
Interpellation von Madeleine Göschke, Grüne Fraktion: Dumdumähnliche Spezialmunition für die Polizei?
Beschluss des Landrats am 16. November 2006: < beantwortet >



Nr. 2112

Die Interpellation wird von Regierungsrätin Sabine Pegoraro beantwortet. Sie schickt voraus, dass die Justiz- und Polizeikommission im August dieses Jahres umfassend zum Thema Spezialmunition von Fachspezialisten der Polizei informiert wurde. Daher verzichtete die Polizeidirektorin auf eine schriftliche Beantwortung der Fragen.


Zu Frage 1:


Die so genannten - früher einmal fabrizierten - Dum-dumgeschosse, werden heute schon lange nicht mehr fabriziert und vertrieben, jedenfalls nicht in legaler Art und Weise. Die heute zur Diskussion stehende, moderne Deformations- bzw. Polizeieinsatzmunition wird zur Zeit durch die beiden Unternehmungen RUAG (Schweiz) und MEN (Deutschland) hergestellt. Die beiden Unternehmungen sind die einzigen, die solche polizeiliche Deformationsgeschosse gemäss den technischen Richtlinien der Polizeiführungsakademie Münster herstellen.


Zu Frage 2:


Die RUAG stellt keine besonders grausame Munition her, wie von der Interpellantin angenommen. Richtig ist, dass die RUAG die so genannte Mannstopp-Munition herstellt. Auch dies ist keine besonders grausame Munition, sondern im Gegenteil eine Munitionsart, die für unbeteiligte Dritte weit weniger gefährlich ist als die heutige herkömmlich verwendete Munition.


Heute besteht immer die Gefahr, dass eine Kugel den Körper nach der Schussabgabe durchschlägt und wieder austritt und damit in der Nähe stehende Personen verletzt oder tötet. Dies sei schon mehrmals geschehen, u.a. bei Familiendramen.


Die neue Deformationsmunition ist so konzipiert, dass ein Wiederaustreten aus dem Körper gar nicht oder wesentlich verlangsamt stattfindet und so die Verletzungs- und Tötungsgefahr für Dritte wesentlich verringert werden kann.


Zu Frage 3:


Sabine Pegoraro verweist auf die vorhergehende Antwort. RUAG stellt den aktuellen gesetzlichen Bestimmungen entsprechende, völkerrechtskonforme Munition her. Details sind beim Bund erhältlich.


Zu Frage 4:


Der Kanton Baselland plant in keiner Art und Weise die Anschaffung von dumdumähnlicher, international geächteter Munition. Richtig ist, dass die Polizei BL, wie auch andere kantonale Polizieikorps und das Grenzwachtkorps des Bundes die Anschaffung der modernen Munition mit kontrollierter Expansionswirkung beschlossen hat und auch anschaffen will. Die Munition entspricht, wie gesagt, den Richtlinien der Polizeiführungsakademie in Münster. Am 30. Juni 2006 wurde von der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren der Einsatz dieser Munition für die Polizei empfohlen. Festzuhalten ist, dass der Schusswaffeneinsatz der Polizei äusserst zurückhaltend gehandhabt wird. Jeder Schusswaffengebrauch, egal mit welcher Munition, birgt die Gefahr, schwerwiegende Verletzungen zu bewirken. Die Polizei setzt ihre Schusswaffen nur in Situationen ein, in welchen nur noch dieses letzte Einsatzmittel möglich ist respektive die Situation nur noch durch dieses Einsatzmittel bereinigt werden kann.


Zu Frage 5:


Auch hier verweist die Polizeidirektorin auf die vorhergehenden Antworten. Wie gesagt, die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren haben sich für die Ausrüstung ihrer Polizeikorps mit der modernen Mannstopp-Munition ausgesprochen, und auch der Bund hat beschlossen, das Grenzwachtkorps mit dieser Munition auszurüsten, nachdem sie als völkerrechtskonform anerkannt wurde.


Madeleine Göschke (Grüne) verlangt die Diskussion. Sie bedankt sich für die Beantwortung der Fragen. Zur Klärung: In ihrer Interpellation ist die Rede von dumdum-ähnlichen Geschossen, womit die in der Regel «Deformationsmunition» genannten Geschosse gemeint sind. Ihres Wissens hat der Bund im Jahr 2001 erneut deren Einführung abgelehnt. Nun, im Jahr 2006 sagt er weder ja noch nein. Offenbar habe die Polizeidirektorenkonferenz dieses Ja/Nein als Freigabe interpretiert, und die Kantone rüsten sich nun damit aus. Sie bezeugt einige Mühe mit der Aussage, dass damit Dritte geschützt werden. Letztlich wisse man, dass die Geschosse den Betroffenen nach wie vor schwerere Verletzungen zufügen. Der Fall, dass Geschosse einen Körper durchdringen und damit eine weitere Person in Verletzungsgefahr bringen, kommt ihres Erachtens äusserst selten vor. Zudem behaupte die Polizei immer, sie benutze Schusswaffen sehr restriktiv d.h. setze sie wirklich nur im äussersten Notfall ein.


Trägt nun ein Polizist neu zwei Schusswaffen auf sich? möchte sie wissen und fragt, ob er auch entsprechend instruiert ist, um im richtigen Moment die richtige Waffe anzuwenden.


Urs Hammel (SD) stellt seinen Ausführungen folgende Frage voran: Soll der Straftäter oder das Opfer respektive sollen unbeteiligte Dritte geschützt werden?


Wie der Bundesrat am 21. September 2001 ausgeführt hat, gilt das völkerrechtliche Verbot bestimmter Munitionsarten nicht ausdrücklich für den innerstaatlichen Polizeieinsatz. Die Kantonspolizei Zürich wie auch andere schweizerische Polizeikorps verwenden im Regelfall als Ersatzmunition Vollmantelgeschosse, also Militärmunition. Allerdings sind diese Geschosse für den polizeilichen Einsatz letztlich nicht geeignet. Da sie beim Aufprall ihre Form kaum verändern, ist die Energieabgabe gering und die Durchschlagskraft sehr hoch. Das bedeutet zum Einen ein erhebliches Risiko, dass ein Körpertreffer zu einem Durchschuss führt und weitere Personen schwer gefährdet oder dass bei Fehlschüssen gefährliche Querschläger entstehen, die Dritte ebenfalls einer erheblichen Gefahr aussetzen. Im militärischen Kriegseinsatz sei dies ohne Weiteres hinzunehmen, erhöhe es doch die Waffenwirkung und damit die gegnerischen Ausfälle. Im polizeilichen Einsatz hingegen ist dies unannehmbar.


Zum Anderen haben die Vollmantelgeschosse mit ihrer geringen Energieabgabe den Nachteil, dass ein Körpertreffer in keiner Weise Garant für rasche Angriffs- bzw. Fluchtunfähigkeit ist, da getroffene Personen in vielen Fällen noch zur Gegenwehr fähig sind. Die nötige Wirkung kann nur erreicht werden, indem mehrere Schüsse abgegeben werden oder besonders sensible, damit aber auch besonders gefährdete Körperpartien getroffen werden. Auch das widerspricht dem Ziel des polizeilichen Schusswaffeneinsatzes, in den wenigen Einsatzfällen rasch Wirkung zu erzielen. Für Spezialeinsätze auf besondere Anordnung hin, beispielsweise für Personenschutz und für die Erfüllung von Polizeiaufgaben in lokal begrenzten Einsatzräumen - bspw. Flughafenterminals, in denen die Verwendung solcher Munition mit unverhältnismässig grosser Gefahr verbunden wäre - empfiehlt sich der Einsatz von Deformationsgeschossen, die drallstabilisert sind und sich beim Aufprall nicht zerlegen [Unruhe im Saal].


Diese Munitionsart werde bisher auch bei den fliegenden Sicherheitsbeamten an Bord von Flugzeugen eingesetzt, führt Urs Hammel weiter aus, wo es darum geht, die Gefährdung der sich auf engem Raum befindlichen Dritten zu mindern und das Durchschlagen der Flugzeughaut zu verhindern. Wie dargelegt, liegt die Problematik vielmehr beim Entscheid für den Waffeneinsatz im Einzelfall als bei der Munitionswahl. Deshalb vermöge die bisher praktizierte Unterscheidung zwischen alltäglichem Polizeidienst und besonderen Aufgaben - lokal begrenzte Einsatzräume - letztlich nicht zu überzeugen. Denn in unseren mehrheitlich urbanen Verhältnissen kann sich auch aus dem alltäglichen Polizeidienst ein Waffeneinsatz in lokal begrenzten Einsatzräumen ergeben. Ausserhalb von Krieg, z.B. zur Terrorismus- und Verbrechensbekämpfung, werden von einigen Staaten, u.a. auch von einigen deutschen Bundesländern, spezielle Deformationsgeschosse aus Kupfer eingesetzt. Die Gründe dafür liegen in der grösseren Mannstopp-Wirkung und im verminderten Risiko für Durchschüsse, die Unbeteiligte verletzen können. Auch die USA verwendet Flach- oder Hohlspitzmunition zur Terrorismus- und Verbrechensbekämpfung, weil sie die grösste Mannstopp-Wirkung hat.


Der Name «Dumdumgeschosse» leite sich im Übrigen vom Namen der Munitionsfabrik in Dumdum (Kalkutta/indien) ab, welche in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts für die britischen Kolonialtruppen eine Patrone mit Teilmantelgeschossen fertigte. Diese wurden von den britischen Truppen im Bauernkrieg von 1899 - 1902 verwendet.


Kaspar Birkhäuser (Grüne) war bei der Orientierung im August in der JPK dabei und konnte viele echte Vorteile dieser Munition zur Kenntnis nehmen, anerkennt sie auch. Beispielsweise hat sie eine geringere Schussweite, es besteht eine kleinere Abprallgefahr und unbeteiligte Dritte sind weniger in Gefahr, getroffen zu werden. Allerdings empfindet er die Bezeichnung «Munition mit kontrollierter Expansionswirkung» als einigermassen schönfärberisch respektive verschleiernd, denn unbestrittenermassen fügt die neue Munition schwerere Wunden zu. Nach wie vor muss man sich die Frage stellen, ob der Gebrauch dieser Munition für polizeiliche Einsätze gerechtfertigt ist. An der Orientierung war auch zu erfahren gewesen, dass die Polizei zu Übungszwecken die klassische Munition benutzt, einerseits aus Kostengründen, andererseits habe der Einsatzleiter aber gesagt, er wolle doch mit der neuen Munition nicht den Kugelfänger im Schiesskeller ruinieren. So harmlos könne die Munition also auch nicht sein!


Dominik Straumann (SVP) weist darauf hin, dass der Einsatz der von Urs Hammel erwähnten ursprünglichen Dumdumgeschosse 1899 nach dem Haager Abkommen für militärische Einsätze verboten wurde. Obwohl das bereits mehr als hundert Jahre zurückliege, ist der Name Dumdumgeschosse immer noch, selbst bei Jugendlichen, sehr präsent. Ein spezieller Punkt der Dumdumgeschosse war, dass sich der Mantel beim Auftreffen im Körper in einzelne Splitter zerlegte, was zu sehr schweren Verletzungen führte und die anschliessende Wundheilung nahezu verunmöglichte.


Deformationsgeschosse wiederum deformieren sich beim Aufprall, das heisst, sie behalten ihre Form und Flugbahn bei und zersplittern nicht; sie bewegen sich axial, also gerade und nicht unkontrolliert. Dass damit grössere Verletzungen einhergehen, sei nicht erwiesen. Beispiel: Zeigt sich bei der Abgabe von zwei Schüssen auf einen Täter keine Reaktion, so wird der Polizist einen dritten und einen vierten Schuss abgeben, bis sich eine Reaktion zeigt. Letztlich werden, wie auch Beispiele aus der Schweiz zeigen, zwischen 9 und 11 Schüsse abgegeben. Gibt man nun mit der neuen Munition zwei Schüsse ab, und es zeitigt Wirkung, was ist nun gefährlicher - die 2 Schüsse oder die 11? Festzustellen sei klar, dass mit der herkömmlichen Munition Einschuss- und Austrittsort der Kugel aus einem Körper völlig unterschiedlich sein können; so könne bspw. eine Kugel im Bauchbereich eintreffen, am Becken anstossen und anschliessend beim Hals austreten. Dieser Fall sei in Deutschland belegt, daher habe es Deutschland bereits erkannt und verwende, wie auch Finnland, Frankreich, Österreich, Belgien und Dänemark, Deformationsmunition. Die schweizerische Polizeidirektorenkonferenz schloss sich dem an. Ganz klar geht damit - aufgrund der kontrollierteren Flugbahn - ein besserer Schutz von Drittpersonen einher.


Polizeiliche Schusswaffeneinsätze kommen in der Schweiz erwiesenermassen sehr selten vor. Bei tatsächlichen Konflikten mit Einsatz von Schusswaffen und tödlichem Ausgang kamen nicht selten auch Polizieangehörige im Kugelhagel zu Tode, getroffen von der Gegenseite, welche mit effizienterer Munition ausgerüstet war. Diesen Zustand könne man als Parlamentarier nicht zulassen. Der Einsatz von Deformationsmunition soll zum Schutz der Polizisten und Dritter unterstützt werden.


An die Adresse seines Vorredners korrigiert er, dass die Polizei nicht weiterhin mit Vollmantelgeschossen üben wird, sondern mit einer Munition, deren Eigenschaften bezüglich Flugbahn und Stoppwirkung mit der Deformationsmunition vergleichbar ist, sich im Kugelfang aber nicht expandiert.


Fredy Gerber (SVP) stellt klar, dass der Begriff «dumdumähnliche Geschosse» nur für Gewehrmunition Anwendung findet, was letztlich auch aus dem zweiten Satz der Interpellation hervorgehe, wo es richtig heisst: «Die Dumdum-Geschosse sind Gewehr kugeln ...» Und es habe wohl noch nie jemand einen Polizisten in Basel-Stadt oder Baselland mit Gewehr patrouillieren sehen.


Regierungsrätin Sabine Pegoraro (FDP) stellt fest, dass die Waffenspezialisten aus dem Ratsplenum sie nun schon tatkräftig unterstützt haben und einige zusätzliche Fragen bereits beantworten konnten.


Nochmals zur Anschaffung des Bundes: Der Bund vertrat ursprünglich die Auffassung, die Munition sei völkerrechtswidrig. Ein daraufhin in Auftrag gegebenes Gutachten kam zu dem Schluss, dass die Munition völkerrechtskonform ist, woraufhin die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren beschlossen, die Munition anzuschaffen. Der Bund hat unterdessen ebenfalls einen Auftrag entgegengenommen, das Grenzwachtkorps mit der Munition auszurüsten.


://: Damit ist die Interpellation 2006/141 von Madeleine Göschke beantwortet.


Für das Protokoll:
Brigitta Laube, Landeskanzlei



Fortsetzung

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