Vorlage an den Landrat
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Vorlage an den Landrat |
Titel: | Teilrevision des Gesetzes über die Verfassungs- und Verwaltungsprozessordnung (Verwaltungsprozessordnung, VPO) | |
vom: | 19. Juni 2007 | |
Nr.: | 2007-153 | |
Bemerkungen: | Inhaltsübersicht dieser Vorlage || Verlauf dieses Geschäfts |
3. Anpassung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsprozesses an die Justizreform des Bundes
3.1 Neue Bestimmungen der Bundesverfassung zur Justizreform des Bundes
Volk und Stände haben am 12. März 2000 den Änderungen der Bundesverfassung (BV; SR 101) über die Reform der Justiz des Bundes zugestimmt, die eine Totalrevision der Bundesrechtspflege zur Folge hat. Sie bezweckt einerseits die Entlastung des Bundesgerichts und andererseits das Schliessen von Lücken im heutigen Rechtsschutz.
Mit der Justizreform des Bundes, die auf den 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist, werden Organisation und Verfahren des Bundesgerichts und seiner Vorinstanzen sowie die Rechtsmittel, die an das höchste Gericht führen, umfassend neu geregelt. Das Reformziel ist eine wirksame und nachhaltige Entlastung des stark überlasteten Bundesgerichts und damit die Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit, aber auch eine Verbesserung des Rechtsschutzes in gewissen Bereichen sowie die Vereinfachung der Verfahren und Rechtswege. Zur Entlastung des Bundesgerichts werden die richterlichen Vorinstanzen ausgebaut. Durch die bereits erfolgte Schaffung des Bundesstrafgerichts wurde das Bundesgericht im Bereich der Strafjustiz entlastet. Im Bereich der unteren Verwaltungsgerichtsbarkeit des Bundes wird neu das Bundesverwaltungsgericht geschaffen, das die über 30 bestehenden Rekurskommissionen des Bundes ablöst. Die heute komplizierten Beschwerdewege an das Bundesgericht werden durch Schaffung von Einheitsbeschwerden vereinfacht.
Die mit der Justizreform in die Bundesverfassung aufgenommene Rechtsweggarantie verlangt schliesslich, dass jede Person bei Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde hat, womit eine abschliessende Beurteilung durch eine Verwaltungsbehörde nur noch in Ausnahmefällen erlaubt ist. Dadurch wird die Bedeutung der kantonalen Gerichte als Vorinstanzen des Bundesgerichts ausgedehnt und verstärkt.
Die Justizreform des Bundes beinhaltet im Wesentlichen folgende Neuerungen:
- | Einführung des Grundrechts auf gerichtliche Beurteilung in praktisch allen Rechtsfragen (sog. Rechtsweggarantie, Artikel 29a BV); Artikel 29a Bundesverfassung lautet wie folgt: "Jede Person hat bei Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde. Bund und Kantone können durch Gesetz die richterliche Beurteilung in Ausnahmefällen ausschliessen." |
- | Pflicht der Kantone zur Einsetzung richterlicher Behörden für die Beurteilung von zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten sowie von Straffällen (Artikel 191b BV). Artikel 191b Absatz 1 Bundesverfassung lautet wie folgt: " Die Kantone bestellen richterliche Behörden für die Beurteilung von zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten sowie von Straffällen." |
- | Verankerung der richterlichen Unabhängigkeit (Artikel 191c BV) und der Selbstverwaltung des Bundesgerichts (Artikel 188 Absatz 3 BV); |
- | Gewährleistung des Zugangs zum Bundesgericht, der für bestimmte Sachgebiete ausgeschlossen werden kann; |
- | Schaffung eines vereinfachten Verfahrens für offensichtlich unbegründete Beschwerden (Artikel 191 BV); |
- | Vereinheitlichung des Zivil- und Strafprozessrechts (Artikel 122, 123 BV); |
- | Schaffung eines selbständigen Bundesstrafgerichts, das für die erstinstanzliche Bundestrafgerichtsbarkeit zuständig ist (Artikel 191a Absatz 1 BV); |
- | Schaffung eines Bundesverwaltungsgerichts, das gegenüber Bundesbehörden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten als richterliche Vorinstanz des Bundesgerichts zuständig ist (Artikel 191a Absatz 2 BV); |
3.2 Neue Bundesgesetze zur Umsetzung der Justizreform des Bundes
Diese Verfassungsaufträge werden auf der Stufe des Bundes durch folgende neue Bundesgesetze umgesetzt:
- | Das Bundesgerichtsgesetz (Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht [BGG]; SR 173.110) legt die Organisation des gesamten Bundesgerichts fest und regelt sämtliche Rechtsmittel, mit denen an das Bundsgericht gelangt werden kann. In Zivilsachen, Strafsachen und in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten werden Einheitsbeschwerden und eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde geschaffen. Zudem wird für offensichtlich unbegründete Beschwerden das vereinfachte Verfahren eingeführt. Die Kantone werden zur Entlastung des Bundesgerichts verpflichtet, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit mit genereller Zuständigkeit und voller Sachverhalts- und Rechtskontrolle einzuführen. |
- | Das Verwaltungsgerichtsgesetz (Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht [VGG]; SR 173.61) regelt Organisation und Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts, das seinen Sitz in St. Gallen hat. Dieses neue "erstinstanzliche Bundesgericht" löst die heute über 30 bestehenden Rekurs- und Schiedskommissionen des Bundes ab, schliesst Lücken im Rechtsschutz in den Bereichen des Bundes, wo heute noch keine richterliche Vorinstanz des Bundesgerichts besteht, und gewährleistet somit im Bundesverwaltungsrecht die Rechtsweggarantie. |
- | Das Strafgerichtsgesetz (Bundesgesetz vom 4. Oktober 2002 über das Bundesstrafgericht [SGG]; SR 173.71) regelt Organisation und Zuständigkeit des Bundesstrafgerichts (mit Sitz in Bellinzona). Diesem wird die Strafgerichtsbarkeit des Bundes übertragen, die bisher vom Bundesstrafgericht in Lausanne als erste und einzige Instanz wahrgenommen wurde. |
- | Die neue Zuständigkeit des Bundes für ein einheitliches Zivil- und Strafprozessrecht wird durch eine eidgenössische Zivilprozessordnung und eine eidgenössische Strafprozessordnung , die beide in Vorbereitung sind, umgesetzt werden. |
Der Aufbau der Gerichtsbarkeit (unter Einbezug der Justizreform des Bundes) wird auf der nachfolgenden Seite in einer vereinfachten schematischen Übersicht dargestellt.
Aufbau der Gerichtsbarkeit [PDF]
3.3 Auswirkungen der Justizreform des Bundes auf die Kantone
Die Justizreform des Bundes ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten und hat auf die Kantone insofern Auswirkungen, als sie die Rechtsweggarantie nach Artikel 29a BV und die im Bundesgerichtsgesetz statuierte Verpflichtung zur Einsetzung von oberen Gerichten als Vorinstanzen des Bundesgerichts umsetzen müssen.
Innert 2 Jahren nach Inkrafttreten des BGG haben die Kantone ihre Verwaltungsgerichtsbarkeit anzupassen (Artikel 130 Absatz 3 BGG). Hinsichtlich der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit ist die
Übergangsfrist auf die Einführung der Schweizerischen Zivil- und Strafprozessordnungen abgestimmt. Sollten diese innert sechs Jahren nach Inkrafttreten des BGG noch nicht in Kraft sein, so legt der Bundesrat die Frist zum Erlass der Ausführungsbestimmungen fest (Artikel 130 Absatz 1 und 2 BGG).
3.4 Die Rechtsweggarantie in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
Die Rechtsweggarantie nach Artikel 29a BV besagt, dass jede Person bei Rechtstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde hat, wobei Bund und Kantone durch Gesetz die Zuständigkeit der richterlichen Behörden in Ausnahmefällen ausschliessen können. Sie garantiert somit bei grundsätzlich allen Rechtsstreitigkeiten den Zugang zu wenigstens einem Gericht, das die Rechts- und Sachverhaltsfragen umfassend überprüfen kann. Die Überprüfung der Angemessenheit des angefochtenen Entscheids durch das Gericht wird aber nicht verlangt.
Die Einführung der Rechtsweggarantie hat für die Kantone somit zur Folge, dass sie die Überprüfung der Anwendung sowohl des kantonalen als auch des Bundesrechts durch kantonale Behörden durch Verwaltungsgerichte gewährleisten müssen. Die Rechtsweggarantie verlangt aber nicht, dass jedes faktische Handeln einer Behörde von einem Gericht kontrolliert werden muss.
Ausnahmen von der Rechtsweggarantie können die Kantone vorsehen, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- | die Ausnahme vom Gerichtszugang ist in einem Gesetz vorzusehen; |
- | bei der Frage des Ausschlusses des Gerichtszugangs ist höherrangiges Recht zu beachten (z.B. Artikel 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 [EMRK; SR 0.101] oder Bestimmungen des BGG). So dürfen nach Artikel 86 Absatz 3 BGG die Kantone auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts die gerichtliche Beurteilung nur ausschliessen für Entscheide mit vorwiegend politischem Charakter (sog. actes de gouvernement), bei der Beschwerde gegen Erlasse (Artikel 87 BGG) und bei der Stimmrechtsbeschwerde gegen Akte des Parlaments und der Regierung in kantonalen Angelegenheiten (Artikel 88 Absatz 2 BGG). |
- | es müssen jeweils spezifische Gründe den Ausschluss der gerichtlichen Kontrolle rechtfertigen (fehlende Justiziabilität, Gewaltenteilungsüberlegungen). |
Nur wenn bei einem staatlichen Akt, der die Rechte und Pflichten von privaten Personen betrifft, die politischen Erwägungen die privaten Interessen überwiegen, darf der Gerichtszugang ausgeschlossen werden. Als Beispiele von Entscheiden bzw. Bereichen mit vorwiegend politischem Charakter können die Begnadigung sowie die innere und äussere Sicherheit betreffende Entscheidungen genannt werden. Zu Rate gezogen werden kann im Übrigen auch Artikel 32 VGG, in welchem der Bundesgesetzgeber die Rechtsweggarantie gegenüber Verfügungen der Bundesverwaltung beschneidet.
Die Rechtsweggarantie ist ein verfassungsmässiges Recht. Wird dem Einzelnen - beispielsweise durch einen Ausnahmekatalog, wie er heute in § 32 Absatz 5 VPO zu finden ist - der Zugang zum kantonalen Gericht verweigert, kann vor Bundesgericht die Verletzung dieser Garantie gerügt werden (vgl. Esther Tophinke, Bedeutung der Rechtsweggarantie für die Anpassung der kantonalen Gesetzgebung in: Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, Band 107 [2006], S. 110 Ziffer 3). Gelangt dieses zum Schluss, dass eine Streitsache von der Rechtsweggarantie umfasst wird, wird es das kantonale Gericht anweisen, auf die Beschwerde einzutreten und sich materiell mit den Vorbringen der betroffenen Person zu befassen. Zur Veranschaulichung soll hier die bundesgerichtliche Praxis angeführt werden, wonach die Kantone aufgrund des verfassungsrechtlichen Harmonisierungsgebotes verpflichtet sind, für Streitigkeiten betreffend die direkte Bundessteuer denselben kantonalen Instanzenzug vorzusehen, wie für solche betreffend die kantonalen Steuern. Wird dieser Rechtsweg durch das kantonale Verfahrensrecht nicht gewährleistet, weist das Bundesgericht die Sache trotzdem an die von Bundesrechts wegen zuständige kantonale Instanz zurück (siehe dazu BGE 130 II 65 sowie 131 II 550 Erwägung 2.1).
Kein Ausschluss des Rechtsschutzes bei Ermessensentscheiden
§ 44 Absatz 2 VPO schliesst heute den Zugang zum Kantonsgericht beispielsweise aus bei Entscheidungen über die Beurteilung von Schul- und Prüfungsleistungen (Buchstabe d) und bei Steuererlassentscheidungen (Buchstabe e). Die Begründung für diese Regelung liegt darin, dass es sich um Materien handelt, bei denen die Verwaltung über ein erhebliches Ermessen verfügt oder die besonderes fachtechnisches Wissen erfordern. Mit der Einführung der Rechtsweggarantie sind solche, mit dem Ermessensspielraum einer Verwaltungsbehörde oder dem fachtechnischen Charakter einer Entscheidung begründete Zugangsbeschränkungen aber nicht mehr zulässig.
Die einem Entscheid zugrunde liegende Ermessensausübung einer Verwaltungsbehörde kann das Kantonsgericht sehr wohl überprüfen und es hat denn auch einzuschreiten, wenn diese das ihr zustehende Ermessen über- oder unterschritten bzw. missbraucht hat. Einzig die Überprüfung der Angemessenheit einer angefochtenen Entscheidung wird auf wenige, in erster Linie die Handlungsfähigkeit bzw. persönliche Freiheit tangierende Fälle beschränkt (vgl. § 45 Absatz 1 Buchstabe c VPO). Bei Ermessensentscheiden ist die gerichtliche Kontrolle somit zwar eingeschränkt,
aber nicht ausgeschlossen, weshalb sie von der Rechtsweggarantie erfasst werden. Eine Ausnahme kann sich allenfalls aus dem überwiegend politischen Charakter eines Entscheides ergeben. Indessen kann aus dem Einräumen von Ermessen, auch wenn dieses von politischen Behörden wie beispielsweise dem Landrat ausgeübt wird, nicht ohne Weiteres auf den überwiegend politischen Charakter eines Entscheides geschlossen werden (vgl. Esther Tophinke, a.a.O., S. 107 f.).
3.5 Auswirkungen des Bundesgerichtsgesetzes auf den kantonalen Rechtsschutz in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
3.51 Anfechtbare Akte
In öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten haben die Kantone nach Artikel 86 Absatz 2 BGG als unmittelbare Vorinstanzen des Bundesgerichts obere Gerichte einzusetzen, soweit nicht nach einem anderen Bundesgesetz Entscheide anderer richterlicher Behörden der Beschwerde an das Bundesgericht unterliegen:
- | Für Entscheide mit vorwiegend politischem Charakter können die Kantone nach Artikel 86 Absatz 3 BGG anstelle eines Gerichts eine andere Behörde als unmittelbare Vorinstanz des Bundesgerichts einsetzen. |
- | Gegen kantonale Erlasse ist nach Artikel 87 BGG unmittelbar die Beschwerde an das Bundesgericht zulässig, sofern die Kantone nicht ein kantonales Rechtsmittel vorsehen. Somit fordert weder die Rechtsweggarantie, noch das BGG eine Einführung eines abtrak-ten Normenkontrollverfahrens im Kanton. |
- | In Stimmrechtssachen (Stimmberechtigung, Volkswahlen und Volksabstimmungen) haben die Kantone nach Artikel 88 Absatz 2 BGG gegen behördliche Akte, welche die politischen Rechte der Stimmberechtigten in kantonalen Angelegenheiten verletzen können, ein Rechtsmittel vorzusehen, wobei sich diese Pflicht nicht auf die Akte des Parlaments und der Regierung erstreckt. |
3.52 Anforderungen an das Gerichtsverfahren
Artikel 110 - 112 BGG bestimmen für die Kantone in verbindlicher Weise, welche Anforderungen das kantonale Gerichtsverfahren erfüllen muss. Die richterliche Behörde muss den Sachverhalt frei überprüfen, das massgebende Recht von Amtes wegen anwenden (Artikel 110 BGG) und mindestens die Rügen nach Artikel 95 - 98 BGG prüfen (Artikel 95 BGG: Rüge betreffend schweizerisches Recht; Artikel 96 BGG: Rüge betreffend ausländisches Recht; Artikel 97 BGG: unrichtige Feststellung des Sachverhalts; Artikel 98 BGG: Verletzung verfassungsmässiger Rechte bei vorsorglichen Massnahmen).
Zudem dürfen die Kantone keine strengeren Voraussetzungen an die Beschwerdeberechtigung Privater stellen, als dies Artikel 89 Absatz 1 BGG vorsieht. Danach reicht ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung der angefochtenen Verfügung und somit ist kein rechtlich geschütztes Interesse erforderlich. Ein schutzwürdiges Interesse liegt also bereits dann vor, wenn die tatsächliche Situation der beschwerdeführenden Partei durch den Ausgang des Verfahrens beeinflusst wird bzw. wenn - im Falle einer Gutheissung der Beschwerde - ein persönlicher und unmittelbarer materieller oder auch ideeller Nachteil, den die angefochtene Verfügung zur Folge haben könnte, abgewendet werden kann.
3.6 Anpassungsbedarf beim Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsprozess
In der heute geltenden VPO wird der Zugang zum Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, im Zusammenhang mit der Verletzung verfassungsmässiger Rechte (§§ 32 ff. VPO) und in Verwaltungssachen (§§ 43 ff. VPO) in bestimmten Fragen ausgeschlossen. In Beachtung der Rechtsweggarantie müssen diese Ausschlussbestimmungen revidiert und folgende Ausnahmen gestrichen werden:
3.61 Beschlüsse des Landrates über die Nichterteilung des Kantonsbürgerrechts
(§ 32 Absatz 5 Buchstabe b VPO)
Im Verfahren betreffend Erteilung des Kantonsbürgerrechts wird über den rechtlichen Status der einbürgerungswilligen Person entschieden. Die Entscheidung liegt zwar im Ermessen des Landrats als politische Behörde. Nach der klaren Rechtsprechung des Bundesgerichts stellt die Erteilung des Bürgerrechts aber eine individuell-konkrete Anordnung dar, welche alle Merkmale einer Verfügung erfüllt. Gerichtlich überprüfbar sind namentlich die Einhaltung von Verfassungsrechten wie das Diskriminierungsverbot oder die Verfahrensgarantien. Dieser individualrechtliche Charakter des Einbürgerungsentscheides überwiegt die politische Bedeutung, weshalb eine Ausnahme von der Rechtsweggarantie nicht gerechtfertigt ist. Die in § 32 Absatz 5 statuierte Zugangsbeschränkung ist deshalb aufzuheben (vgl. auch Esther Tophinke, a.a.O., S. 101).
An dieser Stelle sei auf die (aufgrund der parlamentarischen Initiative von Ständerat Thomas Pfisterer entstandene) Vorlage der staatspolitischen Kommission des Ständerates (SPK-SR) vom 27. Oktober 2005 betreffend Änderung des Bürgerrechtsgesetzes (BüG; SR 141) hingewiesen. Danach sollen die Kantone in einem neuen Artikel 50a BüG verpflichtet werden, Gerichtsbehörden einzusetzen, welche als letzte kantonale Instanzen Beschwerden gegen ablehnende Entscheide über ordentliche Einbürgerungen beurteilen. In der Vorlage der SPK-SR wird darauf hingewiesen, dass die in Artikel 29a BV statuierte Rechtsweggarantie auch im Bereich der ordentlichen Einbürgerung beachtet werden müsse. Die kantonalen Gerichte hätten darüber zu wachen, dass bei Einbürgerungsentscheiden der Kantons- und Gemeindebehörden die Einhaltung von Bundesrecht und kantonalem Recht gewährleistet sei (vgl. Bundesblatt [BBl] 2005 S. 6941 ff.). Der Ständerat stimmte der Vorlage Mitte Dezember 2005 als Erstrat und der Nationalrat am 7. Juni 2007 (mit 103 zu 74 Stimmen) zu.
Ebenfalls am 7. Juni 2007 lehnte der Nationalrat (mit 117 zu 63 Stimmen) die Volksinitiative der SVP ab, welche bezweckt, dass kommunale Entscheide über die Erteilung des Gemeindebürgerrechts künftig endgültig, mithin nicht anfechtbar sein sollen.
Sollte das Volk dieser SVP-Initiative zustimmen, wird eine diesbezügliche Ergänzung des in § 32 Absatz 5 VPO enthaltenen Ausnahmekataloges zu prüfen sein. Indessen ist sowohl nach der heute geltenden Rechtslage wie auch im Falle einer Einführung von Artikel 50a BüG im Sinne der parlamentarischen Initiative von Ständerat Thomas Pfisterer § 32 Absatz 5 Buchstabe b aber zu streichen (vgl. auch die Erläuterungen in Ziffer 2.4 zur Bedeutung der Rechtsweggarantie).
3.62 Entscheide über die Beurteilung von Schul- und Prüfungsleistungen
(§ 44 Absatz 2 Buchstabe d VPO)
Entscheide über die Beurteilung von Schul- und Prüfungsleistungen wurden bisher von der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgenommen. Aufgrund der neuen Rechtsweggarantie muss auch hier der richterliche Rechtsschutz gewährt werden. Wie bei anderen Ermessensentscheiden hat sich das Kantonsgericht aber auf die Kontrolle der Sachverhalts- und Rechtsfragen zu beschränken (vgl. § 45 VPO) und muss den Handlungsspielraum, welcher der den Prüfungsentscheid fällenden Behörde eingeräumt wird, respektieren. Die inhaltliche Bewertung von Examensleistungen ist einer Rechtskontrolle zudem nur sehr beschränkt zugänglich. Als Beurteilungsmassstab steht lediglich das Willkürverbot zur Verfügung, das heisst das Kantonsgericht kann prüfen, ob sich die Examinatorinnen und Examinatoren von sachfremden Erwägungen haben leiten lassen, sodass der Prüfungsentscheid unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als nicht mehr vertretbar erscheint (KGE VV vom 19.1.05 i.S. H.B. [810 04 195] E. 2b).
3.63 Verfügungen und Entscheide des Regierungsrates betreffend Steuererlass
(§ 44 Absatz 2 Buchstabe e VPO)
Die Entscheide betreffend Steuererlass wurden bisher von der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgenommen, da die Beurteilung einer Härtefallsituation eine ausgesprochene Ermessensangelegenheit darstellt. Aufgrund des individualrechtlichen Charakters des Erlassentscheides ist dieser Auschluss des Zugangs zum Kantonsgericht nicht mehr zulässig (vgl. weitere Ausführungen in Ziffer 2.4).
3.64 Entscheide und Verfügungen betreffend Begründung des Anstellungsverhältnisses, Leistungskomponente und Beförderung (§ 44 Absatz 3 VPO).
Nach geltendem Recht können Personalentscheide, welche die Begründung des Arbeitsverhältnisses, die Leistungskomponente (Erfahrungsstufe) oder Beförderungen betreffen, nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden. Auch in diesen Fragen muss das Gesetz künftig die Beschwerdemöglichkeit an ein Gericht vorsehen, weil die diesbezüglichen Verfügungen in jedem Fall Rechte und Pflichten der angestellten Personen, insbesondere Lohnansprüche tangieren und es nach Massgabe der Rechtsweggarantie deshalb möglich sein muss, diese einem Gericht zur Überprüfung vorlegen zu können.
3.65 Kein Anpassungsbedarf bei Beschwerde gegen Erlasse, Stimmrechtsbeschwerde und Verfahren
Bei der Beschwerde gegen Erlasse (§§ 27 ff. VPO) sind keine Anpassungen notwendig. Die heutige Erlasskontrolle besteht aus Gründen der Gewaltenteilung nur gegenüber Normen unterhalb der Gesetzesstufe und gegenüber Gemeindeerlassen, was sich bewährt hat. Gesetze sollen nach dem klaren Willen des Verfassungsgebers (vgl. § 86 Kantonsverfassung) auch weiterhin nicht an das Kantonsgericht, sondern gemäss Artikel 87 Absatz 1 BGG direkt an das Bundesgericht weitergezogen werden können.
Bei der Stimmrechtsbeschwerde besteht ebenfalls keinerlei Anpassungsbedarf. Der Anwendungsbereich der Beschwerde wegen Verletzung der Volksrechte (§§ 37 ff. VPO) geht sogar über die bundesrechtlichen Vorgaben hinaus und erstreckt sich auch auf Akte des Landrats und der Regierung.
Schliesslich erfüllt das Verfahren vor den Abteilungen Verfassungs- und Verwaltungsrecht und Sozialversicherungsrecht des Kantonsgerichts bereits heute die in Artikel 110 - 112 BGG statuierten bundesrechtlichen Vorgaben sowohl hinsichtlich Beschwerdelegitimation (§§ 33 und 47 VPO), Sachverhaltskontrolle (§ 12 VPO), Rechtsanwendung (§ 16 VPO) und Kognition (§§ 35 und 45 VPO).
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