2005-137 (1)


Am 12. Mai 2005 hat Herr Landrat Jürg Wiedemann, Grüne Fraktion, eine Interpellation zur Integration von behinderten Schülerinnen und Schülern mit folgendem Wortlaut eingereicht:

„Im Kanton Baselland gehört die integrative Schulungsform zum Angebot der Sonderschulen. Das heisst, dass laut §4 der Verordnung für die Sonderschulung Schülerinnen und Schüler mit einer Behinderung Anspruch darauf haben, dass die Möglichkeit zur Integration in eine Regelschule geprüft wird. Auch die Leistungsvereinbarung zwischen den Heilpädagogischen Schulen BL und dem Kanton sieht Sonderschulmassnahmen in Regelklassen vor. Durch das nationale Behindertengleichstellungsgesetz vom Dezember 2002, welche Integration von behinderten Kindern in Regelschulen ebenfalls explizit erwähnt, wird das Thema aufmerksam von Eltern, Schulen und der Öffentlichkeit verfolgt.


Die neuen Gesetze bringen endlich ein neues Verständnis: Das Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Kindern wird normal und zur Voraussetzung, dass später auch erwachsene Menschen mit Behinderungen an unserer Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben können.


Ich bitte den Regierungsrat um schriftliche Beantwortung der folgenden Fragen:




Antwort des Regierungsrates


1. Häufigkeit der integrativen Schulungsform


Unter dem Begriff „integrative Schulung" werden gemäss kantonaler Bildungsgesetzgebung zur Sonderschulung jene Schülerinnen und Schülern mit einer Behinderung erfasst, die mit Stützmassnahmen der Sonderschulung die Regelschulen des Kantons und der Gemeinden besuchen. Dabei wird unterschieden zwischen Beratung und Unterstützung. Bei vielen Schülerinnen und Schülern mit Sinnesbehinderungen, seltener auch bei Kindern und Jugendlichen mit motorischen Behinderungen, genügt eine zeitweilige Beratung des Regelschulumfeldes. Es geht um Informationen über den Umgang mit der Behinderung und technische Hilfen. Bei Bedarf kommen Fachpersonen eines Kompetenzzentrums (Sonderschule) in die Regelschule und beraten.


Bei Schülerinnen und Schüler mit Unterstützung gehen heil- und sonderpädagogisch ausgebildete Lehrpersonen regelmässig in den Unterricht und arbeiten in Absprache mit den Regellehrpersonen in der Klasse mit. Auf Grund individueller Förder- und Lehrpläne werden Lektionen vorbereitet und Einzelförderungen durchgeführt. Der Umfang der Unterstützung richtet sich nach dem individuellen Bedarf der Schülerin oder des Schüler und umfasst 4 - 8 Wochenlektionen. Im Einzelfall können es weniger, aber auch mehr sein. Für jeden Schüler, jede Schülerin wird in Zusammenarbeit mit der Diagnostikstelle und der Regelschule ein Integrationskonzept erstellt.


Die Stützmassnahmen werden von Sonderschulen als Kompetenzzentren durchgeführt. Für Schülerinnen und Schüler mit einer Sehbehinderung oder motorischen Behinderungen ist es das tsm Schulzentrum für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in Münchenstein. Für Gehörbehinderte ist der Audiopädagogische Dienst der Gehörlosen- und Sprachheilschule Riehen zuständig. Die Stützmassnahmen bei der integrativen Schulung von Schülerinnen und Schülern mit einer geistigen Behinderung werden von den Heilpädagogischen Schulen Baselland durchgeführt, die von insieme getragen werden. In einem Fall ist das Zentrum für Sonderpädagogik auf der Leiern in Gelterkinden mit einer Stützmassnahme betraut.


Übersicht „integrative Schulung" im Schuljahr 2004/05


1) In den Zahlen sind Stützmassnahmen für 5 Jugendliche in Gymnasien und Berufsschulen enthalten, die gemäss IV-Gesetzgebung zu den erstmaligen beruflichen Eingliederungsmassnahmen zählen würden.
2) Inbegriffen sind die vier Schülerinnen und Schüler der Integrationsklasse in Duggingen. Ab Schuljahr 2005/06 kommen 5 neue Einzelintegrationen und eine Integrationsklasse in Reinach dazu. Damit werden es in diesem Schuljahr 18 Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung sein, die integrativ geschult werden.


Zum Vergleich: Im Schuljahr 2004/05 besuchten rund 500 Schülerinnen und Schüler eine externe Sonderschule.


Die integrative Schulung von Kindern und Jugendlichen mit einer Sinnesbehinderung ist in der Region Nordwestschweiz seit vielen Jahren die Norm. Nur noch wenige Schülerinnen und Schüler mit einer Sinnesbehinderung besuchen eine Sonderschule. Auch bei Schülerinnen und Schüler mit motorischen Behinderungen ist der Anteil integrativer Schulungen in den letzten Jahren gestiegen. Es handelt sich bei der Mehrzahl dieser Schülerinnen und Schüler um Normalbegabte, welche die Lernziele der Regelschule mit gewissen Einschränkungen erreichen können.


Neu ist die integrative Schulung bei Kindern mit einer geistigen Behinderung. Noch vor wenigen Jahren besuchten alle diese Kinder im Kanton Basel-Landschaft eine Sonderschule. Gestützt auf Erfahrungen aus anderen Kantonen und aus dem Ausland und auf Wunsch der Eltern werden seit fünf Jahren einzelne Kinder integrativ geschult. Erst nach der Inkraftsetzung des Bildungsgesetzes und dem eidgenössischen Behindertengleichstellungsgesetz sowie nach verstärkten Bemühungen durch den Schulpsychologischen Dienst, das Amt für Volksschulen und die Fachstelle für Sonderschulung, Jugend- und Behindertenhilfe nimmt die Zahl der integrativen Schulungen dieser Kinder zu. Noch immer ist aber die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung gering, welche integrativ beschult werden.




2. Elternwunsch nach Integration


Nicht in allen Einschulungssituationen, in denen die Eltern eine integrative Schulung wünschten, kam diese auch zustande. Es gibt immer wieder Situationen, in denen eine integrative Schulung abgebrochen werden muss und das Kind danach eine Sonderschule besucht.


Die Gründe für das Nichtzustandekommen einer integrativen Schulung sind vielfältig. Sie können sowohl auf Seiten der Regelschule liegen als auch durch eine abweichende Einschätzung der Integrationsmöglichkeiten durch die Fachpersonen der Abklärungsstellen und der Sonderschulen.


Damit eine integrative Schulung erfolgreich ist, braucht es einen gemeinsamen Willen und ein starkes Engagement aller Beteiligten. Sind die Widerstände oder die Schwierigkeiten zu gross, kommt es zu einer Zerreissprobe, was nicht im Interesse des Kindes ist.


So war auf das Schuljahr 2005/06 das Führen einer weiteren Integrationsklasse (siehe Antwort 3.) im mittleren Kantonsteil vorgesehen, die zum Zeitpunkt der Planung der Klassenbildung in der Primarschule leider nicht zustande kam. Es kommt auch bei Einzelintegrationen vor, dass wegen der Konstellation in einer Regelklasse die Schulleitung der Regelschule nicht mitmachen möchte. In einigen Situationen wäre der Unterstützungsaufwand unverhältnismässig, oder eine Integration muss abgebrochen werden, weil die Behinderung schwerwiegender geworden ist. Gerade bei Kindern mit geistigen oder mehrfachen Behinderungen muss auch das Wissen, wie Integrationen durchgeführt und unterstützt werden können auf beiden Seiten, in der Regelschule und in der Sonderschule teilweise noch erworben und vertieft werden. Es gibt verständlicherweise noch wenig Routine.


Die verantwortlichen Dienststellen der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion bemühen sich den Wünschen betroffener Eltern gerecht zu werden und die Möglichkeit einer integrativen Schulung in jedem Fall zu prüfen. Die Fragestellung der integrativen Schulung wird in der Abklärung der Sonderschulbedürftigkeit geprüft, auch wenn kein ausdrücklicher Wunsch der Eltern geäussert wird.




3. Kantonales Konzept Sonderschulung


Die Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion vertritt seit einigen Jahren folgende Haltung in der Sonderschulung. Es sollen so viele Kinder wie möglich integrativ beschult werden, - soweit es im Einzelfall sinnvoll und verhältnismässig ist. Gleichzeitig stehen Sonderschulen zur Verfügung für jene Kinder, die auf diese Schulform angewiesen sind, - in guter Qualität und möglichst wohnortsnah.


Bereits das Konzept „Sonderschulung im Kanton Basel-Landschaft" aus dem Jahre 1998 enthält die Grundlagen für beide Wege in der Schulung von Kindern mit Behinderungen: 1. den Besuch einer speziellen Schule und 2. Stützmassnahmen, die den Regelschulbesuch ermöglichen. In das neue Bildungsgesetz wurden beide Angebote aufgenommen. Der Anspruch auf Prüfung der integrativen Schulungsmöglichkeit ist verankert. Die rechtlichen Möglichkeiten zur integrativen Schulung sind somit vorhanden und zwar unabhängig vom Verhalten der Invalidenversicherung. Deren schwerfällige Regelungen erschwerten jahrelang die Integration insbesondere von Kindern mit einer geistigen Behinderung.


Die Fachstelle für Sonderschulung, Jugend- und Behindertenhilfe der BKSD hat mit ausgewählten Sonderschulen Leistungsvereinbarungen über die Durchführung von Stützmassnahmen an der Regelschule abgeschlossen oder nimmt in Absprache mit dem Kanton Basel-Stadt die Dienstleistungen eines Kompetenzzentrums in Basel-Stadt in Anspruch. Weil Kinder mit Sinnesbehinderungen seit längerer Zeit mehrheitlich integrativ geschult werden, hat sich für diese Gruppe ein Ablauf eingespielt und es sind in zahlreichen Regelschulen Erfahrungen gemacht worden.


Demgegenüber ist die Integration von körper- oder geistigbehinderten Schülerinnen und Schülern konzeptionell noch wenig geregelt. Vor allem für die erst seit kurzem zunehmenden integrativen Schulungen von Kindern mit geistiger Behinderung sind mangels genügender Erfahrungen noch nicht alle Rahmenbedingungen zufriedenstellend geregelt. Die Fachstelle hat deshalb mit den Heilpädagogischen Schulen Baselland die Schaffung einer Projektstelle für integrative Schulung vereinbart, die seit einem Jahr an konzeptionellen Fragen und an der Durchführung arbeitet. Ein bereits vorliegendes Ergebnis ist das Projekt Integrationsklassen, das sich auf die Erfahrungen der seit einigen Jahren in Basel-Stadt geführten Integrationsklassen abstützen kann.


Integrative Schulung in einer Integrationsklasse meint die gemeinsame Schulung von behinderten und nicht behinderten Kindern und Jugendlichen aus einer Gemeinde oder einer Region in einer Klasse der Regelschule. Sie werden gemeinsam von einer Regellehrperson (des Kindergartens oder der Primarschule) und einer Lehrperson der Heilpädagogischen Schulen Baselland mit je vollem Pensum unterrichtet. Alle Schülerinnen und Schüler gehören zu


einer Klasse, sie lernen und arbeiten an den gleichen Themen. Besondere Anlässe (Ausflüge, Lager, Elternanlässe usw.) finden grundsätzlich gemeinsam statt. Es gilt der Lehrplan der Regelschule und das Angebot ist grundsätzlich dasselbe wie in Parallelklassen. Die in der Regel vier Schülerinnen und Schüler mit einer geistigen Behinderung sind ganz oder teilweise von den Lernzielen der Regelschule befreit. Aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse werden sie im Rahmen individueller Ziele gefördert. Die Regellehrperson und die heilpädagogische Lehrperson bilden das pädagogische Team. Sie tragen gemeinsam die Verantwortung für das Gelingen der integrativen Schulung.


Die Erfahrungen aus Basel-Stadt zeigen, dass beide Gruppen, die behinderten und die nicht behinderten Schülerinnen und Schüler voneinander profitieren. Die nicht behinderten Schülerinnen und Schüler erreichen ihre Lernziele genauso wie die Schülerinnen und Schüler in anderen Klassen. Sie erwerben aber eine grössere Sozialkompetenz. So profitieren die nicht behinderten Kinder insbesondere vom Einsatz individualisierender und differenzierender Unterrichtsformen. Zur Unterstützung der Lehrpersonen und insbesondere zur Betreuung der integrativ geschulten Kinder in den Pausen und Randzeiten steht dem pädagogischen Team eine zusätzliche Person als Schulhilfe zur Verfügung.


Das Modell der Integrationsklassen wird im Kanton Basel-Landschaft derzeit als Projekt der Heilpädagogischen Schulen Baselland geführt und soll nach einer Auswertung der Erfahrungen in der Sonderschulverordnung geregelt werden.




4. Weitere Schritte in der integrativen Schulung


Mit der beschlossenen Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen NFA geht die Sonderschulung vollständig in die Verantwortung der Kantone über. Die Invalidenversicherung zieht sich von der Finanzierung und von Regelungen der Sonderschulung zurück. Gemäss den Übergangsbestimmungen zu den NFA-Beschlüssen in der Bundesverfassung müssen die Kantone über Sonderschulkonzepte verfügen, die von der Regierung genehmigt sind.


Die Arbeiten am Sonderschulkonzept sind im Hinblick auf die Vorbereitung und die Einführung der NFA aufgenommen worden. Die Regierungen der Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt haben beschlossen, das Konzept Sonderschulung gemeinsam zu entwickeln. In der Sonderschulung arbeiten die beiden Kantone eng zusammen. Die Angebote werden über die Kantonsgrenzen hinweg genutzt. Das Konzept wird neben dem gemeinsamen Teil kantonsspezifische Teile enthalten, die den unterschiedlichen Strukturen der beiden Kantone bei der Umsetzung Rechnung tragen. Es ist unbestritten, dass dabei der Förderung der integrativen Schulung grosse Bedeutung zukommt. Es sind Wege zu finden, wie die Integrationsfähigkeit der Regelschule unterstützt und verstärkt werden kann. Weil nach dem Rückzug der Invalidenversicherung der Kanton vollständig für Steuerung und Finanzierung der Sonderschulung zuständig ist, kann er die vorhandenen Mittel flexibler und wirkungsvoller für die integrative Schulung einsetzen, ohne dabei die Qualität der bestehenden Sonderschulen zu gefährden.


Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK hat beschlossen, die interkantonale Zusammenarbeit in der Sonderschulung zu regeln, mit den Zielen der Sicherung von Mindeststandards und einer Harmonisierung unter den Kantonen. In einem ersten Grundlagenpapier hält die EDK fest, dass die Sonderschulung Teil des Bildungsauftrages der Volksschule ist und die integrative Schulung immer zuerst zu prüfen ist. Erst subsidiär, wenn die Möglichkeiten der Regelschule ausgeschöpft sind und eine integrative Schulung geprüft und abgelehnt worden ist, kommt das Recht auf eine Schulung in einer speziellen Einrichtung zur Anwendung. Finanzierungssysteme sollen nicht Anreiz zur Separierung sein, sondern integrative Schulung und Unterstützung fördern. Die im Kanton Basel-Landschaft vertretene Haltung, dass beide Sonderschulungsmöglichkeiten weiterhin offen stehen, wird von den Thesen der EDK gestützt.


Diese klaren Zielrichtungen werden bei den Arbeiten am Sonderschulkonzept der beiden Basel verfolgt. Es wird in den kommenden Jahren im Kanton Basel-Landschaft darum gehen, die bestehenden Erfahrungen mit der integrativen Schulung auszuwerten, das Projekt Integrationsklassen weiterzuentwickeln und Angebots- und Zuweisungsstrukturen sowie Finanzierungssysteme entsprechend zu konzipieren. Dies wird in enger Zusammenarbeit zwischen Regelschule und Sonderschulung erfolgen. Die integrative Schulung ist gerade dort, wo noch wenig Erfahrung vorhanden ist, aufwändig und verlangt von den beteiligten Personen ein grosses Engagement. Lehrpersonen der Regel- und der Sonderschulen leisten bei der Durchführung integrativer Schulungen einen grossen Einsatz.


Der Regierungsrat ist entschlossen, in der Sonderschulung die integrative Schulung zu verstärken und schrittweise, aber konsequent auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen.


Liestal, 13. September 2005


Im Namen des Regierungsrates:
Die Präsidentin: Schneider-Kenel
Der Landschreiber: Mundschin



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