2002-42 (1)


Am 7. Februar 2002 reichte Landrat Dieter Völlmin, eine Interpellation zum Thema: Regionalkonferenz der Regierungen der Nordwestschweiz / Vollendung des schweizerischen Nationalstrassennetzes ein. Der Vorstoss hat folgenden Wortlaut:

"Mit Schreiben vom 7. Juli 2000 äussert sich die Regionalkonferenz der Regierungen der Nordwestschweiz gegenüber dem Bundesrat zur Vollendung des schweizerischen Nationalstrassennetzes. Konkret geht es um den Ausbau der A1/A2 auf dem Abschnitt Wiggertal-Härkingen. Gestützt auf ein vom Baudepartement des Kantons Aargau ausgearbeitetes Positionspapier hält die Regionalkonferenz folgendes wörtlich fest:


An der Aussage von 1995 gegenüber dem Bundesrat, eine Kapazitätserhöhung auf der gesamten Strecke der A1, d.h. ein Bauentscheid stehe gegenwärtig nicht zur Diskussion, ist grundsätzlich festzuhalten.


Trotz dieser richtigen Feststellungen und auch angesichts der in der Zeitspanne von 1995 bis 2000 stattgefundenen Verkehrsentwicklung sieht die Regionalkonferenz keinen aktuellen Handlungsbedarf bezüglich Kapazitäten. Diese bemerkenswerte Stellungnahme der Nordwestschweizer Regierungen wirft, nicht zuletzt unter Berücksichtigung der seit Juni 2000 stattgefundenen Entwicklung, einige Fragen auf. Ich bitte deshalb den Regierungsrat um die schriftliche Beantwortung folgender Fragen:



Antwort des Regierungsrates

"Nachhaltigkeit" ist rasch zu einem breit akzeptierten Begriff geworden. Dies, ohne dass bis heute geklärt ist, was sich eigentlich dahinter genau verbirgt. Das Konzept der Nachhaltigkeit ist eine sehr weit reichende allgemeine Idee, die im Einzelnen konkret interpretiert werden muss. Definition: "Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, welche weltweit die heutigen Bedürfnisse zu decken vermag, ohne für künftige Generationen die Möglichkeit zu schmälern, ihre eigenen Bedürfnisse zu decken." (1)


In dieser sehr komplexen und auf der politischen Ebene umstrittenen Thematik sind für uns die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogrammes 41 (NFP 41) wegweisend. Zum Abschluss des NFP 41 sind anlässlich der Tagung "Auf dem Weg zur nachhaltigen Mobilität" vom 30./31. Januar 2001 im Kongresszentrum der BeaExpo in Bern die verschiedenen Teilsynthesen und die Empfehlungen an die Verkehrspolitik präsentiert worden (2) . Nachfolgend werden einzelne gekürzte Aussagen diverser Referate wiedergegeben:


Editorial des Bundespräsidenten Moritz Leuenberger:


"Als Ziele unserer Mobilitätspolitik haben wir 1997 im Programmporträt für das Nationale Forschungsprogramm «Verkehr und Umwelt» (NFP 41) formuliert:


Der Präsident der Expertengruppe Prof. Francis-Luc Perret:


"Tatsächlich ist die Mobilität eine der grundlegendsten Ressourcen, ohne die alle anderen materiellen und immateriellen ökonomischen und gesellschaftlichen Produktionsfaktoren ihren Wert nicht umsetzen können. Die Qualität der Mobilität lässt sich aber nicht auf einer linearen Skala messen. Es braucht wenig, und aus dichtem Verkehr wird Stau, ja eine grundlegende und auf Anhieb kaum korrigierbare Verschlechterung der Erreichbarkeit mit unabsehbaren Folgen. [...] Diese Mobilität findet in einem sehr zerbrechlichen und kostbaren Umfeld statt: Der Satz von Sitting Bull möge uns daran erinnern: "Wir haben die Erde nicht von unseren Vorfahren geerbt, wir haben sie von unseren Kindern geliehen." Achten wir also darauf, dass diese Welt in möglichst natürlicher und gleicher Weise für möglichst Viele zugänglich, erreichbar bleibt."


Der Programmleiter Felix Walter:


"Der Bundesrat hatte uns den Auftrag gegeben, die wissenschaftlichen Grundlagen für eine nachhaltige Verkehrspolitik zu verbessern. Es freut mich, dass Herr Bundespräsident Leuenberger die wissenschaftlichen Leistungen dieser aus über 50 Forschungsteams bestehenden "Denkfabrik" so positiv würdigt."


Er zeigte die aktuellen Wachstumsraten und -prognosen (beispielsweise +30% auf der Strasse bis 2020) und zog daraus den Schluss: "Mit der bisher beschlossenen Verkehrspolitik wird trotz grosser Erfolge noch keine nachhaltige Entwicklung erreicht. Die Synthese des Forschungsprogramms zeigt, dass weder marktwirtschaftliche noch technische oder bewusstseinsbildende Massnahmen allein ausreichen, um dem rapiden Wachstum zu begegnen. Nur eine Kombination von aufeinander abgestimmten Massnahmen, die wesentlich über die heutige Verkehrspolitik hinaus gehen, kann massiv zunehmende Staus, Defizite und Umweltschäden vermeiden."


Zusammenfassend lauten die acht Aktionslinien für eine nachhaltige Verkehrspolitik aus der Gesamtsynthese (S8) des NFP 41:


Die Schweiz ist noch nicht auf Kurs zu einer nachhaltigen Entwicklung


Zu diesem Schluss kam das Schwerpunktprogramm (SPP) Umwelt des Nationalfonds am 18. März 2002 (3) . "Heute werde nur umgesetzt, was wirtschaftlich und gesellschaftlich möglich sei, nicht aber, was ökologisch nötig wäre", sagte Rudolf Häberli, Direktor des SPP Umwelt.



Zu den einzelnen Fragen

1. Erachtet der Regierungsrat, welcher die Haltung der Regionalkonferenz mitträgt, diese in sich widersprüchliche Haltung, wie sie im Zitat unter 3. hievor erkennbar wird, für heute politisch noch vertretbar? Und ist sie angesichts der inzwischen konkret stattgefundenen Entwicklung (Güterverkehr, LSVA-Auswirkungen) politisch überhaupt verantwortbar?


Im zitierten Abschnitt kann - isoliert betrachtet - zwar ein vermeintlicher Widerspruch festgestellt werden, betrachtet man jedoch die Ausführungen im Gesamtkontext, so löst sich der angebliche Widerspruch auf und die Aussage ist durchaus eindeutig.


Im Sinne einer vorsorglichen Problemlösung müssen letztlich alle Massnahmen geprüft und in Erwägung gezogen werden, welche zur Lösung der künftigen Verkehrsprobleme führen können. So zeugt es von einer vorausschauenden und umsichtigen Haltung, wenn auf baulicher Seite Vorkehrungen getroffen werden, welche einen späteren Ausbau der Autobahn auf 6 Spuren - im Sinne einer Option - offen halten bzw. nicht unnötigerweise erschweren und verteuern. Im Positionspapier des Baudepartements des Kantons Aargau wird hierzu festgehalten, dass die durchschnittlichen, täglichen Verkehrswerte auf den besagten Autobahnabschnitten für eine 4-spurige Autobahn relativ hoch sind (DTV ca. 65'000 Mfz/Tag). Diese stellen aber bei weitem noch keine "Baregg-Verhältnissen" (DTV ca. 93'000 Mfz/Tag) dar.


Zudem besteht die Pflicht, weitergehende Abklärungen auf technischer und fiskalischer Ebene zu sondieren (Verkehrsleitsystem, "Road Pricing", Kombiverkehr usw.), um auf die künftigen Problemstellungen gezielt reagieren und die absehbaren Verkehrsprobleme angehen und lösen zu können. Derartige, fiskalische Massnahmen sind primär keine Massnahmen gegen die Wirtschaft, da heute der Freizeitverkehr bereits mehr als 60 % am Gesamtverkehrsaufkommen ausmacht und an Sonntagen sogar bis zu 92 %. Es ist somit auch im Interesse der Wirtschaft, wenn die Hochleistungs- und Hauptverkehrsstrassen ihre Funktion erfüllen können bzw. wenn auf diesen Strassen ein möglichst ungehinderter und flüssiger Verkehr möglich ist und bleibt. Das Gesamtverkehrsaufkommen bzw. unsere Mobilitätsbedürfnisse steigen nach wie vor stetig, wobei der Freizeitverkehr überproportionale Zuwachsraten aufweist.


Ferner ist zu erwähnen, dass sich die Schweiz 1997 anlässlich der UNO-Klimakonvention dazu verpflichtet hat, u.a. die Emissionen von Treibhausgasen bis zum Jahre 2010 gegenüber dem 1990'er Niveau um 10 % zu reduzieren. Von diesem Ziel sind wir noch weit entfernt. Auch diesbezüglich ist es opportun, alle Massnahmen zur angestrebten Zielerreichung zu prüfen. Bevor jedoch Massnahmen wie "Road Pricing" überhaupt umgesetzt werden könnten, müssten dafür zuerst auf Bundesebene die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden (4) . Dies setzt wiederum eine breit angelegte, politische Diskussion bzw. Meinungsfindung voraus. Um dafür aber Antworten bereit zu halten, sind im Vorfeld auch derartige Massnahmen zu untersuchen und zu prüfen (vgl. auch Nationales Forschungsprogramm NFP 41).


Letztlich geht es um einen Interessenausgleich, mit welchen organisatorischen und technischen Massnahmen wir unsere zukünftigen Mobilitätsansprüche effizient und umweltschonend befriedigen können.



2. Im erwähnten Positionspapier wird gefordert, dass eine "verkehrspolitische Weichenstellung zwecks Umkehr des "Strassen-Trends" vorzunehmen sei. Was versteht der Regierungsrat unter dem Begriff "Strassen-Trend" und wie stellt er sich eine solche Weichenstellung in der Praxis vor?


Unter dem Begriff "Strassen-Trends" verstehen wir in erster Linie das immer noch stetig wachsende Verkehrsvolumen und die damit verbundenen, zunehmenden Probleme (Sicherheit, Stau, Luftverschmutzung usw.) und Risiken (Schwerverkehr, Transport gefährlicher Güter bzw. Ereignisse wie sie in den Tunnels am Gotthard oder am Mont Blanc geschehen sind).


Eine wichtige Weichenstellung ist der Wettbewerb zwischen Schiene und Strasse bzw. die Verlagerung eines grossen Teils des Güterverkehrs auf die Schiene. Dazu müssen aber die entsprechenden Kapazitäten bei der Bahn für den Güter- und Personenverkehr zuerst vorhanden und ausgebaut sein (Bahn 2000, II. Etappe). Im Gleichschritt sind die Produktivität bei den Bahnen, die Optimierung der Schienenkapazitäten, der Kombiverkehr und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu verbessern sowie auch nachfragegerechte Güterumschlagsplätze und Terminals bereitzustellen.


Bei der Konkurrenz von Schiene und Strasse sind vor allem die Faktoren Preis, Zuverlässigkeit und Zeit von ausschlaggebender Bedeutung. Eines der grösste Potentiale beinhaltet dabei die Beschleunigung der Transporte auf der Schiene. Wie bereits erwähnt, sind dafür aber die notwendigen Schienenkapazitäten erst noch bereitzustellen, um den Güterverkehr nicht zu Lasten des schienengebundenen Personenverkehrs abwickeln zu müssen.



3. Bestehen konkrete Pläne zur Einführung von "Road Pricing" oder anderer "Instrumente einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung" in unserem Kanton?


Der Kanton Basel-Landschaft befürwortet eine nachhaltige Bewältigung des Verkehrs in unserer Region. Insbesondere sollen umweltfreundlichere und energiesparsamere Verkehrsarten wie der öffentliche Verkehr, der Velo- und Fussgängerverkehr weiter gefördert werden.


"Road Pricing" soll als eine optionale Massnahme betrachtet werden, insbesondere dort wo die Verkehrsinfrastruktur an ihre Grenze angelangt ist und auf Grund der beschränkten Ressourcen (z.B. Boden) diese sich nicht mehr erweitern lässt. Dieses Modell wird zurzeit in einigen europäischen Grosstädten (Barcelona, Oslo, Lyon, Marseille, London) praktiziert. Wie bereits unter Frage 1 festgestellt, fehlen derzeit die gesetzlichen Grundlagen auf Stufe Bund für die Umsetzung von "Road Pricing" - Massnahmen. Entsprechend bestehen in unserem Kanton auch keine konkreten Pläne zur Einführung von "Road Pricing".


Seit Jahren setzt sich die Baselbieter Regierung für die Realisierung des Wisenbergtunnels ein, um dem vom Souverän in mehreren Urnengängen zum Ausdruck gebrachten Konzept der Verlagerung des alpenquerenden Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene zum Durchbruch zu verhelfen. Heute besteht virulent die Gefahr, dass der Güterverkehr auf der Schiene dem schienengebundenen Personenverkehr gleichgestellt wird. Aus Sicht einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung ist dies im Grundsatz richtig. Wird dies jedoch unter den heutigen Rahmenbedingungen verwirklicht, so wird - aufgrund von zu wenig Schienenkapazitäten - der regionale Personenverkehr mit Einschränkungen und Abstrichen zu rechnen haben. Zudem wäre die Umsetzung des Regio-S-Bahn-Konzept unter diesen Voraussetzungen - ohne neuen Juradurchstich / Wisenbergtunnel - nicht mehr realisierbar. Dies gilt es auf jeden Fall zu vermeiden, weshalb die Realisierung eines zweiten Juradurchstichs auch für unsere Region bzw. für die Standortgunst der ganzen Nordwestschweiz von eminenter Wichtigkeit ist und bleibt. Optimale Verkehrsverbindungen tragen immer auch zur Erhöhung der wirtschaftlichen Standortattraktivität bei. Dabei wird aber gleichzeitig auch ein Standort oder eine Region mit hoher Lebensqualität gefordert (Habitat und Landschaft, Lufthygiene, Lärm), was einen Kurswechsel in Richtung nachhaltige (Verkehrs)-Entwicklung notwendig macht.



4. Hat die Regionalkonferenz bzw. der Regierungsrat Kenntnis von der im März 2000 veröffentlichten Studie "Abschätzung des volkswirtschaftlichen Nutzens des Strassenverkehrs in der Schweiz", erstellt von Herrn Professor Dr. Herbert Baum und Frau Dr. Judith Kurte vom Institut für Verkehrswissenschaft der Universität Köln, welche zum Schluss kam, dass 1995 der private Strassenverkehr in der Schweiz einen externen Nutzen in der Höhe von rund 27 Milliarden Franken bewirkt hat gegenüber den von Experten des Bundes für den gesamten privaten Strassenverkehr für 1995 ermittelten externen Kosten von rund 7 Milliarden Franken? Welche Schlüsse zieht der Regierungsrat zum Thema Kostenwahrheit und "Road Pricing" aus den Ergebnissen dieser Studie?


Die Zahlen bzw. Grössenordnungen sind uns aus den Medien bekannt, allerdings in einer etwas anderen Interpretation. In der neuesten Studie des Nationalen Forschungsprogramm 41 (NFP 41) geht man davon aus, dass rund 30 Milliarden Franken jährlich (1995 (5) ) oder knapp acht Prozent der schweizerischen Wertschöpfung auf das Konto des Verkehrs (des Gesamtverkehrs, nicht nur des privaten Strassenverkehrs) gehen. Der hohe Gesamtnutzen ist aber kein Grund, dass der Verkehr nicht für seine vollen Kosten aufkommen soll, denn der Nutzen aus dem Verkehr fällt den Verkehrsteilnehmern zu oder wird über den Markt umverteilt. Andererseits kosten die ungedeckten Umwelt- und Unfallkosten im Strassen- und Schienenverkehr sowie die Defizite im öffentlichen Verkehr die Gesellschaft rund 10 Milliarden Franken im Jahr mit steigenden Prognosen.


Kritisch anzumerken ist, dass in vielen Fällen Umweltschäden eben nicht dem Verursacher sondern der Gesellschaft belastet werden. Wenn also externe Kosten auftreten, versagt heute der Marktmechanismus noch vielfach. Dies weil die Umwelt über weite Bereiche ein öffentliches Gut ist, das von allen gratis beansprucht werden kann und entsprechend auch von allen genutzt und übernutzt wird.


Eine von sieben Umwelt- und Entwicklungsorganisationen erstellte Studie legt dar, wie eine den Grundsätzen der Nachhaltigkeit verpflichtete Schweiz aussehen müsste. Dabei zeigt sich, dass wir auf einem "5.6 mal zu grossem Fuss" leben. Damit wir die Ziele der Nachhaltigkeit im Jahre 2050 erfüllen würden, müssten wir zum Beispiel die CO 2 -Emissionen um 74 %, den Verbrauch von Primärenergie um 50 % und den Wasserverbrauch um 30 % reduzieren (6) .



Liestal, IM NAMEN DES REGIERUNGSRATES
der Präsident:
der Landschreiber:



Fussnoten:

1 Brundtland-Bericht "Our Common Future", 1987


2 Weitere Informationen zum NFP 41 sind unter www.nfp41.ch (Bulletin 9) verfügbar


3 Basellandschaftliche Zeitung, Schweiz verfehlte umweltpolitische Ziele, 19. März 2002


4 vgl. auch Rechtsgutachten zur Zulässigkeit einer privaten Strassengebühr auf der Chasseralstrasse, Tobias Jaag, Dr. iur. Rechtsanwalt, Professor an der Universität Zürich sowie Markus Rüssli, Dr. iur. Rechtsanwalt, Zürich


5 vgl. auch Bericht "Faire und effiziente Preise im Verkehr", 1999, Maibach Markus, Schryer Christoph, Banfi Silvia, Iten Rolf, de Haan Peter


6 Neue Zürich Zeitung, Alltagsleben auf viel zu grossem Fuss, 23. Januar 1996



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