2001-285 (1)


Am 22. November 2001 hat Max Ribi eine Interpellation mit dem Titel "Wer entzieht sich der Justiz ?" eingereicht. Die Interpellation hat folgenden Wortlaut:

"Ich habe aus dem Amtsblatt die Gerichtlichen Publikationen der Statthalterämter, der Bezirkskanzleien, der Staatsanwaltschaft, der Ueberweisungsbehörde und des Strafgerichts in der Periode Juli 2000 - Juli 2001 gesammelt. Sie betreffen die Rubriken Bekanntmachung, Urteilsmitteilungen, Vorladungen und Verfügungsmitteilungen. Ich habe dies nicht etwa aus Vergnügen gemacht, sondern aus Verärgerung über den meist unbekannten Aufenthalt der Straffälligen, die sich so der Strafe entzogen haben. Juristisch ist alles korrekt. Der Vollzug der ausgesprochenen Urteile ist das Problem. Ein Teil der Verurteilten versteht es sehr gut abzutauchen, zu verschwinden. Sie unterlaufen die Rechtsprechung. Die Anständigen in unserem Staat fühlen sich als die Dummen.


Zusammengezählt bin ich auf rund 655 Publikationen in einem Jahr gekommen. Die meisten Publikationen betreffen Bussen wegen Schwarzfahrens in öffentlichen Verkehrsmitteln, Bussen wegen Verkehrsübertretungen und Widerhandlung gegen das Transportgesetz (z.B. zu viel auf dem Lastwagen geladen). Dann gibt es eine ansehnliche Anzahl von Umwandlungen von Bussen in Haft. Weitere Delikte sind: Rechtswidriger Aufenthalt, rechtswidrige Einreise, Vorladungen via Mitteilung im Amtsblatt. Dann findet man auch Strafverfahren, die mit Kostenfolge zu Lasten des Staates eingestellt worden sind. Da wird man als Steuerzahler hellhörig. Auffallend ist die grosse Anzahl von Ausländern bei allen Publikationen. Wenn man Gerichtsberichterstattungen liest, so fällt auf, dass es immer wieder Fälle mit Gerichtsverhandlungen in Abwesenheit des Angeklagten gibt.


Ich bitte den Regierungsrat und das Obergericht zu nachfolgenden Fragen in schriftlicher Form Stellung zu nehmen:



BEANTWORTUNG der Fragen:

Einleitende Bemerkungen


Die gestellten Fragen betreffen einen weiten Bereich von Strafuntersuchung über Urteile bis Vollzug; damit sind verschiedene Behörden (Statthalterämter, Staatsanwaltschaft, Gerichte in Strafsachen und Generalsekretariat JPMD (Kosteneinzug und Strafvollzug) angesprochen. Der Regierungsrat hat zur Beantwortung der Fragen deshalb auch die Gerichtsbehörden konsultiert. Systematisch erfolgen zuerst allgemeine Bemerkungen und anschliessend spezifische Antworten auf die einzelnen Fragen.




Grundsätzliches:


Die Interpellation von Landrat Max Ribi spricht einen Themenkreis an, der die Gerichte und den Regierungsrat immer wieder beschäftigt. Die Situation, dass sich einzelne Verurteilte der Strafe entziehen können, wird als sehr unbefriedigend empfunden. Die Frage berührt allerdings mehrere Bereiche, sodass eine differenzierte Betrachtung unumgänglich ist; insbesondere sind die Bereiche "Publikation im Amtsblatt" und "entzieht sich dem Urteil" nicht deckungsgleich.


Zum Verfahren der Publikation: Nach Abschluss einer Strafuntersuchung wird der verurteilten Person ein Strafbefehl oder ein Gerichtsurteil (nachfolgend beide als Urteil bezeichnet) als richterliche Urkunde zugestellt. Kann diese Urkunde durch die Post nicht zugestellt werden, wird bei Verurteilten mit Wohnsitz in der Schweiz in der Regel die Polizei am Wohnort des Verurteilten rechtshilfeweise ersucht, das Urteil gegen Unterschrift auszuhändigen. In den allermeisten Fällen kann das Urteil auf diese Weise doch noch zugestellt werden. Bei den Verurteilten mit Wohnsitz im Ausland wird das Urteil nach einem erfolglosen Zustellungsversuch in der Regel im Amtsblatt veröffentlicht, damit auch diese Urteile in Rechtskraft erwachsen. Eine Veröffentlichung im Amtsblatt sagt nichts darüber aus, ob der Verurteilte die Busse (sowie Kosten und Gebühren) bezahlt hat oder nicht. Sie geschieht lediglich mit dem Zweck, die Rechtskraft des Urteils eintreten zu lassen (vgl. dazu die Bestimmungen in § 193 bis 201 StPO). Bei einem Teil der im Amtsblatt mit "unbekanntem Aufenthalt" ausgeschriebenen Personen handelt es sich um Personen mit Wohnsitz im Ausland, die ihre Busse bereits in Form eines Depositums (Vorschuss) vorgeleistet haben. Personen mit unbekanntem Aufenthalt, die ihre Busse noch nicht bezahlt haben, werden in der Regel nach Rechtskraft des Urteils zur Aufenthaltsnachforschung ausgeschrieben.


Der auffällige Anstieg der Urteilspublikationen im Bereich der Einstellungsbeschlüsse ist die Folge einer Praxisänderung in diesem Bereich: aus Gründen der Rechtssicherheit publiziert die Staatsanwaltschaft heute alle Einstellungsbeschlüsse; früher wurden nur jene publiziert, welche einer Partei Kosten auferlegten.


Ausserhalb der rechtlichen Aspekte darf nicht unerwähnt bleiben, dass ein deutlicher Anstieg bei den Strafbefehlen auf den vermehrten Einsatz der stationären Radaranlagen auf der Autobahn zurückzuführen ist. Bei Verkehrskontrollen ohne Anhalteposten erhöht sich naturgemäss auch der Anteil der nicht zustellbaren Strafbefehle insbesondere an ausländische Automobilisten, indem die Quote der "nicht erreichbaren" fehlbaren FahrzeuglenkerInnen (und damit der Ausschreibungen im Amtsblatt) höher ausfällt gegenüber dem früheren System mit Anhalteposten.




Frage 1:


Wie hoch ist ungefähr der Anteil der Verurteilten, die sich der Strafe entziehen - unbekannter Aufenthalt, im Ausland - gegenüber der Gesamtzahl der Verurteilten?


Es ist zunächst zu unterscheiden zwischen der Strafe der Busse (Geldstrafe) und der Haft-, Gefängnis- oder Zuchthausstrafe (Freiheitsstrafe). Beide Strafen müssen un bedingt ausgesprochen worden sein, damit sie vollzogen werden können.


Bei den Freiheitsstrafen ist der Anteil jener Personen, die sich der Strafe entziehen, eher gering, schätzungsweise 3-5%; eine genaue Statistik darüber wird nicht geführt. Das "Entziehen" kann verschiedene Ursachen haben, so auch z.B. gesundheitliche Gründe (fehlende Hafterstehungsfähigkeit). Es kann aber auch darin begründet sein, dass die betreffende Person nicht auffindbar ist; diesfalls wird sie nicht im Amtsblatt, sondern im polizeilichen Fahndungsregister RIPOL ausgeschrieben, je nach Fall national oder international.


Im Bereich der Bussen waren es im Jahr 2001 ebenfalls 5%, bei denen die Forderungen wegen unbekanntem Aufenthalt nicht eingefordert werden konnten (445 Urteile, 22 Fälle unbek. Aufenthaltes).


Bei ausländischen Verurteilten ist es möglich, dass diese aufgrund von fremdenpolizeilichen Bestimmungen schon zu einem früheren Zeitpunkt ausgeschafft worden sind und der Vollzug aus diesem Grunde nicht mehr durchgeführt werden kann.




Frage 2:


Wie gross sind die Anstrengungen, den Aufenthaltsort ausfindig zu machen ?


Im Laufe einer Strafuntersuchung befassen sich verschiedene Stellen mit einem Fall, namentlich Polizei, Statthalterämter, Staatsanwaltschaft, Gerichte, Vollzugsbehörde und Kosteneinzug. Der Aufenthaltsort wird bereits zu Beginn einer Strafuntersuchung ausfindig gemacht (Polizei, Statthalterämter), vgl. § 193 der StPO (Fahndung und Aufenthaltsnachforschung), unter anderem mittels Rückfragen bei den Einwohnerkontrollen und dem Amt für Migration (ehemals Fremdenpolizei). Ist mittels dieser Vorkehren keine aktuelle Adresse eruierbar, wird die betroffene Person mittels Publikation im Amtsblatt öffentlich geladen (§ 196 StPO) oder, für rechtskräftig verurteilte Personen, eine Ausschreibung im RIPOL vorgenommen. Anstelle der Publikation im Amtsblatt können die Strafverfolgungsbehörden nach erfolgloser Postzustellung versuchen, die entsprechenden Urteile und Verfügungen auch auf dem Weg der internationalen Rechtshilfe zustellen zu lassen. Dies ist allerdings äusserst aufwendig, da für jedes Land eigene Verfahrensvorschriften gelten.


Ein Teil dieser Kundschaft zeichnet sich durch wenig stabile Verhältnisse und geringe Zuverlässigkeit aus, was die Fehlerquote bezüglich Adresse/Erreichbarkeit erhöht. Das bedeutet


auch, dass die Adresse während des Verfahrens plötzlich nicht mehr stimmen kann: so sind beispielsweise ca. 30 % der Adressen, die im Untersuchungsverfahren angegeben worden sind, nicht mehr zutreffend, wenn der Fall am Strafgericht anhängig gemacht wird.


Im übrigen ist zu bedenken, dass sich das "Massenproblem" schon von der Anzahl her weniger bei den Gerichtsurteilen stellt als bei den Strafbefehlsverfahren der Statthalterämter; auch die erwähnten Fälle der automatischen Geschwindigkeitskontrollen fallen fast vollumfänglich in die letztere Kategorie.




Frage 3:


Bedeutet "unbekannter Aufenthalt" auch illegaler Aufenthalt im eigenen Kanton?


"Unbekannter Aufenthalt" bedeutet, dass der aktuelle Wohnort/Aufenthalt nicht ausfindig gemacht werden kann, da die Person unbekannt verzogen ist, oder sie die Gerichtsurkunde aus anderen Gründen nicht entgegen nimmt (Ferienabwesenheit usw.). Bei den Personen mit Wohnsitz im Ausland ist der Wohnsitz in den meisten Fällen bekannt. Da die Gerichtsurkunde aber durch die Post nicht hat zugestellt werden können, wird das Urteil im Amtsblatt veröffentlicht, damit der Strafbefehl rechtskräftig wird.


"Unbekannter Aufenthalt" bedeutet somit nicht , dass die Person sich irgendwo illegal aufhält. Es kann sein, dass in gewissen Fällen gleichzeitig unbekannter Aufenthalt und illegaler Aufenthalt bei einer Person zusammentreffen. Die Begriffe unbekannter Aufenthalt und illegaler Aufenthalt haben jedoch keinen Zusammenhang resp. der eine Status lässt keine Schlussfolgerung auf den anderen Status zu. Diese beiden Begriffe sind daher streng auseinanderzuhalten .




Frage 4:


Wird man den Verurteilten mit unbekanntem Aufenthalt eines Tages wieder habhaft oder werden die "Fälle" abgeschrieben oder spielt nur der Zufall?


Vor der Verurteilung: Die Gerichte schreiben keine Fälle ab, nur weil sie den Aufenthaltsort der angeschuldigten Person nicht kennen: In diesem Fall wird ein Abwesenheitsverfahren (§ 197 StPO) durchgeführt und der Fall beurteilt. Sowohl Vorladungen als auch Urteile müssen per Amtsblatt "veröffentlicht" werden, damit sie rechtswirksam sind.


Nach der Verurteilung: Bei den Freiheitsstrafen und Bussen werden die Verurteilten mit unbekanntem Aufenthalt für die Dauer der Vollstreckungsverjährung im RIPOL ausgeschrieben. Wenn sie bei einer Ausweiskontrolle oder auch z.B. an der Landesgrenze durch die Polizei erfasst werden, kann ihre Strafe vollzogen werden, resp. bei Bussen werden diese in der Regel auf der Stelle bezahlt (vor allem beim Grenzübertritt). Hier spielt natürlich der Zufall mit.


Wann ein Fall "abgeschrieben" werden muss, bestimmt das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) mit den Verjährungsvorschriften; es gibt eine Verfolgungsverjährung (für laufende Strafverfahren: Art. 70 ff. StGB) und eine Vollstreckungsverjährung (für rechtskräftig Verurteilte: Art. 73 ff. StGB). Die Dauer bewegt sich je nach Deliktschwere zwischen einem (Verfolgungsverjährung bei Übertretungen: Art. 109 StGB) und 30 Jahren (Vollstreckungsverjährung bei lebenslangem Zuchthaus: Art. 70 StGB) bzw. unverjährbar (für besonders schwere Straftaten etwa gegen die Menschheit: Art. 75 StGB).



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