2000-215 (1)

Am 2. November 2000 hat Roland Bächtold eine Interpellation "Jugendkriminalität im Baselbiet" eingereicht. Die Interpellation hat folgenden Wortlaut:


" In verschiedenen Kantonen hat die Delinquenz von Jugendlichen in den letzten Jahren zum Teil markant zugenommen. Die Gründe für den Anstieg sind vielfältig. So der Reiz nach gewissen materiellen Gütern, die unterschwellige Bereitschaft zu Gewalt und Vandalismus, gesellschaftspolitische Motive und die zum Teil fehlende Integration ausländischer Jugendlicher, Verstösse gegen das Strassenverkehrsgesetz, das Betäubungsmittelgesetz usw.. Doch auch das Anzeigeverhalten der Bevölkerung und der Lehrerschaft hat sich in den letzten Jahren gewandelt, indem heute schneller Anzeige erstattet wird.




Ich bitte daher den Regierungsrat um die schriftliche Beantwortung folgender Fragen:


1. Wie entwickelte sich im Baselbiet die Delinquenz der Jugendlichen in den letzten zehn Jahren?


2. Welche Gesellschaftsgruppen von Jugendlichen und welche Vergehen standen und stehen im Mittelpunkt der jugendlichen Delinquenz?


3. Wieweit ist im Baselbiet die Kriminalität von Jugendbanden aktuell?


4. Welche Negativfolgen sind aufgrund des Lehrstellenmangels, der Jugendarbeitslosigkeit in den Rezessionsjahren, der ethnischen Herkunft, usw. massgebend?


5. Mit welchen Strategien reagiert man von Seiten der Behörden auf die Jugenddelinquenz und mit welchen Erfolgen?"




Der Regierungsrat nimmt zur Interpellation wie folgt Stellung:


Frage 1


Wie entwickelte sich im Baselbiet die Delinquenz der Jugendlichen in den letzten zehn Jahren?


Die bekannt gewordene Jugendkriminalität hat im Baselbiet in den letzten Jahren nicht massiv zugenommen. Es konnten zahlenmässig keine gravierenden Veränderungen festgestellt werden, doch es zeichnete sich demgegenüber eine Tendenz zu massiveren Delikten ab. Jährlich gelangen ca. 1500 Anzeigen und Rapporte betreffend strafbarer Handlungen an die Jugendanwaltschaft, die ca. 750 Kinder und Jugendliche betreffen. Dabei sind Delikte gegen das Strafgesetzbuch, Betäubungsmitteldelikte, Regelverstösse im Bereich der Strassenverkehrsgesetzgebung sowie Widerhandlungen gegen eidgenössische und kantonale Nebenstrafgesetze enthalten. Im Vordergrund stehen Delikte gegen das Strafgesetzbuch, wobei insbesondere Ladendiebstähle, Sachbeschädigungen und Tätlichkeiten/einfache Körperverletzungen hervorzuheben sind. Im Bereich der Betäubungsmitteldelikte musste eine massive Zunahme des Cannabiskonsums festgestellt werden.




Frage 2


Welche Gesellschaftsgruppen von Jugendlichen und welche Vergehen standen und stehen im Mittelpunkt der jugendlichen Delinquenz?


Vereinzelt waren massive Delikte im Bereich des Drogenhandels durch illegal eingereiste Ausländer oder Asylbewerber zu verzeichnen. Vielfach versuchte diese Personengruppe durch falsche Angaben ihres Alters in den Genuss des Jugendstrafrechts zu kommen. Diese Missbräuche konnten durch Altersbestimmungen gestoppt werden. Neben Delikten von Jugendlichen in der Pubertät, die einmal ihre Grenzen ausloten und durch ein sinnvolles Strafverfahren und geeignete Sanktionen zumeist keine weiteren strafbaren Handlungen mehr begehen, war auch bei der Jugendanwaltschaft zeitweise die Problematik bei der Integration von Ausländern in der Schweiz und die Schwierigkeiten vieler Jugendlichen im Bereich ihrer Ausbildung spürbar.




Frage 3


Wieweit ist im Baselbiet die Kriminalität von Jugendbanden aktuell?


Nur vereinzelt wurden Delikte von Jugendlichen, die sich in Gruppen zusammengeschlossen hatten, zur Anzeige gebracht. In diesem Bereich ist unklar, wie gross die Dunkelziffer ist. Es ist von grosser Bedeutung, dass allfällige schwerere Delikte (insbesondere Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und Raub) von den Opfern zur Anzeige gebracht werden und die Täterschaft ermittelt wird.




Frage 4


Welche Negativfolgen sind aufgrund des Lehrstellenmangels, der Jugendarbeitslosigkeit in den Rezessionsjahren, der ethnischen Herkunft, usw. massgebend?


Die Jugendberatungsstelle "wie weiter?" ist nicht direkt mit Gewalt und Kriminalität konfrontiert. Die Beratungsstelle erlebt aber, dass die Stellenlosigkeit Jugendliche krank machen kann, sie kann zu einem persönlichen Drama werden. Die Ausgrenzung schafft soziale Spannungs- und Aggressionsfelder. Absagen auf Bewerbungen - für eine Lehrstelle bis zu dreissig - sind für junge Menschen Verletzungen und Kränkungen, die sie nicht so schnell verarbeiten können. Das Nichteinsteigenkönnen erzeugt Gefühle von Minderwertigkeit, Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Auch das Familienklima wird dadurch strapaziert und stark beeinflusst.


Die Beratungsstelle erlebt Jugendliche ohne Anschlusslösungen entweder als unruhig, unzufrieden, abnorm angepasst oder gleichgültig. Vor allem männliche Schweizer Jugendliche projizieren ihre Aggressionen und Unlustgefühle in die Aussenwelt und suchen oft in ausländischen Kameradinnen und Kameraden Sündenböcke. Junge Frauen "lösen" oft durch Rückzug und Destruktion nach innen (z.B. Essverhalten) diese Probleme.


Jugendliche, die nicht in eine Lehre einsteigen können, sind gemäss den Erfahrungen der Beratungsstelle krankheitsanfälliger, suchtgefährdeter, ziehen sich zurück und werden asozial und realitätsfremd. Speziell männliche Schweizer Jugendliche werden aggressiver und destruktiver als junge Frauen und suchen oft im "Fremden" den Sündenbock (Rechtsextremismus).




Frage 5


Mit welchen Strategien reagiert man von Seiten der Behörden auf die Jugenddelinquenz und mit welchen Erfolgen?"


In den letzten Jahren wurden im Kanton Baselland in den verschiedensten Gebieten bereits erhebliche Anstrengungen im Bereich der Jugendförderung, der Berufsfindung und der Präventionsarbeit unternommen. Das hat auch wesentlich dazu beigetragen, dass im Baselbiet im Bereich der Jugendkriminalität akzeptable Verhältnisse herrschen.


Die genannten Anstrengungen mögen die beiden Beispiele der Justiz-, Polizei- und Militärdirektion und der Erziehungs- und Kulturdirektion noch näher erläutern:


Mit folgenden Massnahmen hat die Justiz-, Polizei- und Militärdirektion beigetragen:


- Abgesehen von Bagatelldelikten müssen Kinder und Jugendliche auf der Jugendanwaltschaft zu einer Einvernahme erscheinen, wo neben der Klärung des Sachverhalts auch ein Präventionsgespräch und das Erkennen von allfälligen spezifischen Problemen Gegenstand der Abklärungen sind. Die Jugendlichen müssen begreifen, weshalb ihr Verhalten nicht in Ordnung war, welche Folgen solche Verhaltensweisen für sie, die Geschädigten und die Gesellschaft haben.


- In komplexeren Fällen, insbesondere im Bereich von Gewalt-, Sexual- und Betäubungsmitteldelikten, wird durch spezifisch geschulte Sozialarbeiter eine Persönlichkeitsabklärung durchgeführt.


- Die Jugendanwaltschaft konnte die durchschnittliche Verfahrensdauer verkürzen, was auch dazu beiträgt, dass ein nachhaltiger Lerneffekt bei den Betroffenen erzielt werden kann.


- Aufgabe des Jugendanwalts ist es, bei jedem einzelnen Jugendlichen festzustellen, welche Strafe oder Massnahme die nachhaltigsten Ergebnisse erzielt. Während bei einem Teil der Jugendlichen eine klare Strafe - zumeist in der Form einer Arbeitsleistung in der Freizeit - als Zeichen des Grenzensetzens erforderlich ist, benötigen andere Jugendliche bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten unterstützende Massnahmen, beispielsweise in der Form einer ambulanten Therapie, einer Erziehungshilfe, einer klaren Tagesstruktur oder gar einer stationären Heimeinweisung. Vielfach erscheint eine Kombination von Strafen mit unterstützenden Massnahmen am wirksamsten.


- Regelmässig finden Veranstaltungen statt, um der Öffentlichkeit und insbesondere den Schulen die Aufgaben und Arbeitsweise des Jugendstrafrechts näher zu bringen.


- Nachdem in den letzten Jahren aufgrund vielfältiger anderer Aufgaben die Polizei BL zu wenig Zeit für den Jugendbereich einsetzen konnte, wurden in diesem Jahr auf Anregung des Jugendanwalts drei Stellen von polizeilichen Jugendsachbearbeitern geschaffen. Diese Personen arbeiten eng mit der Jugendanwaltschaft zusammen und sind primär im Bereich der Ermittlung von Jugenddelikten tätig. Mit diesen neuen Mitteln dürfte es möglich sein, sich einer Zunahme von Delikten von Jugendbanden erfolgreich in den Weg zu stellen. Daneben unterstützen die Jugendsachbearbeiter auch die Präventionsarbeit der Jugendanwaltschaft durch ihre dezentrale Tätigkeit im engen Kontakt mit Jugendlichen, Eltern, den Schulen, Jugendhäusern und Gemeinden. Das Projekt wurde im August 2000 aufgenommen, erste Erfahrungen sind äusserst positiv.


- Im Bereich der jugendstrafrechtlichen Sanktionen des Jugendanwalts werden neue zeitgemässe Lösungen entwickelt und umgesetzt. Als Beispiel sei das Projekt "take off" genannt, wo Jugendliche, die beschäftigungslos "herumhängen" für die Dauer von 6 Monaten eine klare Tagesstruktur erhalten und in einer Werkstätte, wo ihnen auch Lernhilfen und eine Unterstützung bei ihrer Berufsfindung gegeben wird, wieder wichtige Schritte in ein normales Leben machen.


- In einer anderen Sanktionsform beinhaltet der Entscheid des Jugendanwalts neben der Bestrafung in Form einer Arbeitsleistung die Teilnahme an einem Kurs bei einem Jugendpsychiater und Jugendpsychologen, wo es darum geht, dass sich die Täter nochmals intensiv mit den von ihnen begangenen Delikten auseinandersetzen müssen.


- Schliesslich ist die vermehrte Zusammenarbeit der Sanitäts-, Erziehungs- und Justizdirektion positiv hervorzuheben, aus der bereits eine Vielzahl von erfolgreichen Präventionsprojekten und -Veranstaltungen hervorgegangen sind.


Die Erziehungs- und Kulturdirektion hat als Grundstrategie die Arbeitsintegration gewählt. So werden konkrete Hilfestellungen zur Arbeitsintegration - wie das Impulsprogramm "Chance" des Amtes für Berufsbildung und Berufsberatung - geleistet, z.B.: Die Jugendberatungsstelle "wie weiter?", die den Auftrag hat, stellenlose Jugendliche zwischen 16 und 22 Jahren in eine Lehre oder Anlehre zu integrieren. Seit 1. April 1998 konnten dort 300 Jugendliche beraten und begleitet werden. 200 junge Menschen konnten durch konkrete Beratungs-, Lern- und Werkstattangebote in eine Lehre oder Anlehre integriert werden.


Einige Aussagen von Jugendlichen zur Arbeitsintegration der Jugendberatungsstelle mögen die Wichtigkeit dieses Angebotes belegen:
"Ich habe gar nicht gewusst, dass ich gut sein kann."
"Das Wichtigste war, ich habe mich selber gut kennengelernt."
"Ich konnte fast nicht glauben, dass jemand sich um mich kümmert."
"Ich habe gelernt, am Morgen wieder aufzustehen."
"Sie haben mich ernst genommen."
"Ich habe gelernt, auf Schwächere Rücksicht zu nehmen."


Ferner hat die Erziehungs- und Kulturdirektion über ihren Beauftragten für Jugend- und Gesellschaftsfragen im Schulinspektorat vor allem im Bereich der Gewalt- und Drogenprophylaxe an den Schulen aller Stufen Einfluss genommen und damit einen wichtigen Beitrag zur Kriminalitätsprävention geleistet. Gerade der Bereich der Prävention ist für die Jugendlichen enorm wichtig.


Schlussbemerkung: Wenn wir alle bei unseren Jugendlichen genau hin-sehen und hin-hören, erkennen wir viele Orte mit Defiziten, wo wir Erwachsenen (auch wir Politikerinnen und Politiker) unser Verhalten überdenken sollten: Zeit für Gespräche, Beziehungen wichtig nehmen, verbindliche Umgangsformen pflegen, Grenzen setzen, Werte leben, Klarheit und Genauigkeit erwarten, einander achten und ernst nehmen - das sind Stichworte, die wir uns vergegenwärtigen und leben sollten.


Liestal, 19. Dezember 2000


Im Namen des Regierungsrates
Der Präsident: Koellreuter
Der Landschreiber: Mundschin



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