2000-19

Landrat / Parlament || Vorlage 2000-019 vom 18. Januar 2000


Postulat 98/198 vom 15. Oktober 1998 betreffend Revison des Verwaltungsverfahrensgesetzes (Abschaffung des verwaltungsinternen Beschwerdeverfahrens)


Geschäfte des Landrats || Hinweise und Erklärungen





Am 15. Oktober 1998 reichten Landrat Bruno Krähenbühl und 14 mitunterzeichnede Landrätinnen und Landräte das folgende Postulat ein:

Text:


"Das Verwaltungsverfahrensgesetz vom 13. Juni 1988 regelt das Verfahren für den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung von Verfügungen durch die Verwaltungsbehörden.


Laut § 29 des genannten Gesetzes fungiert im Beschwerdeverfahren der Regierungsrat als Beschwerdeinstanz. Er beurteilt Beschwerden gegen:


a. Verfügungen letztinstanzlicher Gemeindebehörden
b. Verfügungen der Bezirksbehörden
c. Verfügungen kantonaler Kommissionen
d. Verfügungen der Direktionen
e. Verfügungen kantonaler Dienststellen und ihrer Ämter
f. Verfügungen der übrigen Verwaltungsbehörden.


Mit diesem Modell der verwaltungsinternen Beschwerdemöglichkeit obliegt es der Aufsichtsinstanz, über Beschwerden gegen Verfügungen der unteren Instanzen zu entscheiden. Es liegt auf der Hand, dass die Glaubwürdigkeit dieses Verfahrens immer wieder angezweifelt wird. Die unteren Verwaltungsinstanzen sind in der Regel weisungsgebunden oder stützen ihre Entscheide auf regierungsrätliche Verordnungen. Bei den Betroffenen tauchen deshalb immer wieder Bedenken auf, ob ihr Fall von der oberen Instanz wirklich unabhängig neu entschieden werden kann. Die Unvoreingenommenheit der Beschwerdeinstanz ist für viele nicht über jeden Zweifel erhaben. Das gilt übrigens auch für die von der Regierung gewählte Baurekurskommission.


Die bei uns praktizierte Rechtsprechung durch die Exekutive missachtet im Grunde genommen das Prinzip der Gewaltentrennung. Beschwerdeentscheide fällen heisst Recht sprechen, und das sollte in einem demokratischen Staat eigentlich Sache eines unabhängigen Gerichtes sein.


Aus diesen Gründen ersuche ich den Regierungsrat, im Zuge der Reorganisation unseres Gerichtswesens zu überprüfen, ob es aus rechtsstaatlichen Überlegungen nicht besser wäre,


a) den Regierungsrat gänzlich von der Rechtsmittelfunktion zu entlasten (die entsprechenden Aufgaben wären in Analogie zur heutigen Steuerrekurskommission einem erstinstanzlichen Verwaltungsgericht zu übertragen);


b) die Baurekurskommission in ein wirklich unabhängiges Spezialgericht umzuwandeln und dem Landrat über die Abklärungen zu berichten und Antrag zu stellen."


Das Postulat wurde vom Landrat am 11. März 1999 dem Regierungsrat zur Behandlung überwiesen.




1. Allgemeines


Verwaltungsrechtspflege (im engeren) Sinne bedeutet Rechtsprechung in verwaltungsrechtlichen Materien. Darunter wird die autoritative, also mit unbestreitbarer Verbindlichkeit ausgestattete Erledigung von verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten in einem förmlichen Verfahren verstanden (1) . Hauptaufgabe der Verwaltungsrechtspflege (sowohl der verwaltungsinternen als auch der verwaltungsexternen) ist es, das Individuum zu schützen. Das Individuum ist - wenn auch nicht immer - im Verhältnis zum Staat zumeist der schwächere Teil. Deshalb sollen ihm spezielle Mittel in die Hand gegeben werden, um sich gegen unrichtige Rechtsanwendungen zur Wehr zu setzen. Daneben bezweckt die Verwaltungsrechtsprechung aber auch die Gewährleistung der Rechtssicherheit, und sie fördert durch ihre Praxis gleichzeitig den Ausbau und die Fortbildung des materiellen Rechts (2) . Sie soll eine gesetzmässige und rechtsgleiche Verwaltungspraxis sicherstellen. Von der Verwaltungsrechtspflege geht deshalb auch ein Stück Verwaltungskontrolle aus (3) .


Gemäss dem Gewaltenteilungsprinzip, wonach die drei Staatsfunktionen auf drei verschiedene Organe (Exekutive, Legislative, Judikative) verteilt sind, soll jedes der drei Staatsorgane nur eine ganz spezifische Stammfunktion ausüben. Die vollständige Durchsetzung des Gewaltentrennungsprinzips (oder Gewaltenteilungsprinzips) ist jedoch ein Idealfall, der weder auf Bundesebene noch in den Kantonen besteht. Vielmehr wird die Ausübung der verschiedenen Staatsfunktionen in einem bedeutenden Mass durchmischt. Der Grund liegt darin, dass sich gewisse Staatsaufgaben (z.B. Aussenpolitik) kaum eindeutig zuordnen lassen. Zudem werden aus praktischen und politischen Gründen jedem der drei Organe auch gewisse Aufgaben übertragen, die zu den den beiden andern Organen zugeordneten Staatsfunktionen zu zählen sind (4) . Deshalb begnügt sich die Lehre mit der Zuweisung sogenannter Stammfunktionen, für welche eine Zuständigkeitsvermutung gilt. Dabei ist unbestreitbar das Regieren und Verwalten Stammfunktion der Regierung, während die Rechtsprechung als Stammfunktion der Judikative anzusehen ist (5) . Die Gewaltenteilung darf allerdings nicht doktrinär im Sinne der strengen 'séparation' verstanden werden, sondern im Sinne der gemässigten, umfassenden, unter gebührender Beachtung der politischen, der staatsleitenden und der Wahlfunktion sowie der rechtsfreien Handlungsräume (6) . Aus der dargelegten Durchmischung der verschiedenen Funktionen ergibt sich, dass auch der Exekutive rechtsprechende Funktionen zugewiesen werden können, wie dies in der Baselbieter Kantonsverfassung auch ausdrücklich vorgesehen ist (7) .


Verwaltungsrechtspflege teilt sich in diesem Sinne in die verwaltungsinterne und in die verwaltungsexterne Rechtspflege. Die verwaltungsinterne Rechtspflege charakterisiert sich dadurch, dass zur Erledigung von Verwaltungsstreitigkeiten Organe innerhalb der Verwaltungshierarchie zuständig sind, während bei der verwaltungsexternen Rechtspflege unabhängige Instanzen, die ausserhalb der Verwaltungsapparates stehen, mit der Entscheidung über streitige verwaltungsrechtliche Rechtsverhältnisse betraut sind. Beide Formen können grundsätzlich ein- oder mehrstufig sein (8) .




2. Verwaltungsinterne Rechtspflege (verwaltungsinternes Beschwerdeverfahren)


Das Kennzeichen der verwaltungsinternen Rechtspflege ist, dass der Streit durch eine Behörde erledigt wird, die selbst Teil der Verwaltung und deshalb gerade nicht verwaltungsunabhängig ist. Das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass den zuständigen Rechtspflegeorganen regelmässig die Befugnis eingeräumt wird, die angefochtenen Verfügungen unterer Behörden nicht nur auf ihre Rechtmässigkeit, sondern vielmehr auch auf ihre Angemessenheit zu überprüfen (9) . Es ermöglicht dem Regierungsrat oder der Direktion, die einer Stelle hierarchisch vorgesetzt ist, in einem geordneten Verfahren die unterstellte Verwaltung zu beaufsichtigen, für eine rechtmässige und wirksame Verwaltungstätigkeit (10) und für eine einheitliche Ermessensausübung durch die Verwaltungsbehörden zu sorgen sowie die Verwaltungstätigkeit zu koordinieren. Dem internen Beschwerdeverfahren kommt auch ein Selbstreinigungs-Effekt zu, weil dieses Verfahren sicherstellt, dass die Verwaltung aus sich heraus die Gesetzmässigkeit der Verwaltung gewährleistet. Das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren gibt dem Regierungsrat, soweit die Entscheidkompetenz bei ihm liegt, sodann ein Kontroll-, Leitungs- und Koordinationsinstrument in die Hand. Es stärkt damit die Stellung des Regierungsrates als leitende und oberste vollziehende Behörde des Kantons (11) und ermöglicht ihm damit, seine rechtliche und politische Verantwortung wahrzunehmen. Auch wenn es sich bei den Entscheiden, die im verwaltungsinternen Beschwerdeverfahren ergehen, immer um Entscheide im Einzelfall handelt, kommt ihnen oft - gerade wenn es sich um grundsätzliche Fragen der Gesetzesauslegung oder der Ermessensausübung handelt - präjudizierende Bedeutung zu. In diesem Sinne kann die verwaltungsinterne Beschwerdeinstanz in Einzelfällen Grundsätze und Richtlinien festlegen, nach denen sich die untergeordneten Verwaltungsbehörden in Zukunft und in ähnlichen Fällen zu richten haben. Das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren zeichnet sich zudem dadurch aus, dass es eine gute Informationsmöglichkeit darstellt. Oft werden gerade in streitigen Verfahren Mängel der Rechtsordnung sichtbar. Beschwerden vermögen zuweilen sehr gut aufzuzeigen, wo im Verhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Verwaltung der Schuh drückt. Damit stellt das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren auch eine Art Beschwerdemanagement im Sinne des New Public Managements (NPM) dar (vgl. Jürg Gysin, NPM-Taschenbuch, Liestal 1999, S. 17).




3. Verwaltungsexterne Verwaltungsrechtspflege (verwaltungsexternes Beschwerdeverfahren)


Bei der verwaltungsexternen Verwaltungsrechtspflege handelt es sich um die Kontrolle der Verwaltung durch eine unabhängige Instanz, die ausserhalb des Verwaltungsapparates steht und mit der Entscheidung über streitige verwaltungsrechtliche Rechtsverhältnisse betraut ist (12) . Auch bei dieser Organisationsform kann es sich entweder um ein einstufiges oder um ein mehrstufiges Rechtsmittelverfahren handeln. Als idealste Form der externen Verwaltungsrechtspflege gilt die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung durch eine strikte personelle und organisatorische Trennung zwischen Rechtsprechungs- und Verwaltungsfunktion Rechnung. Eine mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattete Behörde entscheidet über die Erledigung von Verwaltungsstreitigkeiten (13) .


Bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit kann zwischen der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit und den sogenannten Spezialverwaltungsgerichten oder Rekurskommissionen unterschieden werden. In aller Regel kann in der verwaltungsexternen Verwaltungsrechtspflege allerdings nur die Rechtmässigkeit einer Verwaltungshandlung überprüft werden. Die volle Ermessensüberprüfung, also die Möglichkeit, eine Verfügung auch auf ihre Angemessenheit zu überprüfen, steht der verwaltungsexternen Verwaltungsrechtspflege in aller Regel nicht zu (14) .




4. Die Ausgestaltung der Verwaltungsrechtspflege in den Kantonen


Eine Umfrage des Rechtsdienstes des Regierungsrates bei den Kantonen hat ergeben, dass die Deutschschweizer Kantone mit einer Ausnahme (Appenzell Innerrhoden) über ein verwaltungsinternes Beschwerdeverfahren verfügen. Die Ausgestaltung ist jedoch unterschiedlich, da einige Kantone nach wie vor ein mehrstufiges internes Verwaltungsrechtspflegeverfahren kennen, während die anderen - wie unser Kanton - das einstufige Verfahren mit dem Regierungsrat oder dem Direktionsvorsteher oder der -vorsteherin als einzige verwaltungsinterne Beschwerdeinstanz bevorzugen. Die grosse Mehrheit der Deutschschweizer Kantone sieht jedoch in einzelnen Rechtsgebieten Ausnahmen von der verwaltungsinternen Verwaltungsrechtspflege vor. Die Ausnahmen betreffen vor allem steuerrechtliche und enteignungsrechtliche Fragen, aber auch in anderen Rechtsgebieten sind Spezialgerichte oder Rekurskommissionen nicht unbekannt (bspw. im Ausländerrecht, Kt. AG; im Bereich der Massnahmen gegen Fahrzeugführer, Kt. SG und Kt. BE; der Kt. Zürich kennt die verwaltungsunabhängige Baurekurskommission und andere Kantone haben im Landwirtschaftsrecht spezielle Rekurskommissionen eingerichtet). Kein Deutschschweizer Kanton beabsichtigt, das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren abzuschaffen; diskutiert wird jedoch der Uebergang vom mehrstufigen zu einem einstufigen verwaltungsinternen Beschwerdeverfahren (Kt. AG). Alle Deutschschweizer Kantone, die sich an der Umfrage beteiligt haben, sind der Auffassung, dass sich das von ihnen gewählte Modell und damit auch das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren bewährt habe.


Etwas anders sieht es in der lateinischen Schweiz aus. Die Kantone Waadt und Genf kennen das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren nur in Ausnahmefällen, wenn dieses Verfahren im Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Auch der Kanton Jura kennt das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren nicht, er hat aber ein generelles Einspracherecht (15) eingeführt. Der gemischtsprachige Kanton Freiburg kennt ein verwaltungsinternes Beschwerdeverfahren. Die lateinischen Kantone, die das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren nur als Ausnahme kennen, beabsichtigen nicht, ein derartiges Verfahren einzuführen. Der Kanton Genf hat seine Verwaltungsrechtspflegegesetzgebung soeben überarbeitet und sieht offenbar noch verstärkt die direkte Beschwerdemöglichkeit beim kantonalen Verwaltungsgericht vor. Nach Auffassung der lateinischen Kantone hat sich auch das Modell ohne verwaltungsinternes Beschwerdeverfahren bewährt.


Fortsetzung


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Fussnoten:


1. vgl. zum Ganzen Attilio R. Gadola, Das verwaltungsinterne Beschwerdeverfahren, Zürich 1991, S. 1


2. Gadola, a.a.O., S. 7 ff.


3. Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, Bern 1983, S. 19


4. Ulrich Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1993, N 618


5. Gadola, S. 2; Philippe Mastronardi, Gewaltenteilung und NPM, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht = ZBl 1999 S. 456; Kurt Nuspliger, Gewaltenteilung und wirkungsorientierte Verwaltungsführung, in: ZBl 1999 S. 470; Alois Riklin, Mischverfassung und Gewaltenteilung, in: Festschrift zum 65. Geburtstag von Mario M. Pedrazzini, Bern 1990, S. 27


6. Alois Riklin, a.a.O., S. 37


7. § 76 Absätze 3 und 4 KV


8. Gadola, a.a.O., S. 10 ff.


9. Gadola, a.a.O., S. 11


10. § 76 Absatz 2 KV


11. § 71 Absatz 1 KV


12. Gadola, a.a.O., S. 12


13. Gadola, a.a.O., S. 14; Ulrich Häfelin / Georg Müller, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Zürich 1998, N 1451


14. vgl. auch § 45 des Gesetzes über die Verfassungs- und Verwaltungsprozessordnung im Verhältnis zu § 32 des Verwaltungsverfahrensgesetzes


15. Bei der Einsprache handelt es sich um ein im Gesetz vorgesehenes förmliches Rechtsmittel, mit dem eine Verfügung bei der verfügenden Verwaltungsbehörde zwecks Neuüberprüfung angefochten wird (Ulrich Häfelin/Georg Müller, a.a.O., N 1410)